Mit dem Bus in die Zukunft

Datum des Artikels 27.04.2016
Bund aktuell

Am Tag ihres 60. Geburtstags unternimmt die MIT einen Ausflug in die eigene Zukunft. Gemeinsam mit rund 20 Interessierten tourt sie durch die Startup- und Innovationsszene der Hauptstadt. Mit erstaunlichen Einblicken in eine noch erstaunlichere Welt.

Statt eines Gedenktags mit Festreden und schönen Erinnerungen schnappen sich MIT-Vorsitzender Carsten Linnemann und das Team um MIT-Hauptgeschäftsführer Thorsten Alsleben und Geschäftsführerin Astrid Jantz zwei Dutzend interessierter Mitreisender und touren gemeinsam durch das sich stets neu erfindende Berlin. Es geht dabei, fast schon klischeehaft, über die vielzitierten Hinterhöfe in Klinkerbauten, in denen man kaum einen Weltkonzern vermuten würde. Zum Abschluss führt die Tour zur neuen Berliner Anschrift des Kommunikations-Giganten Vodafone, in einen Büroneubau, dem ein Parkhaus weichen musste – auf den zweiten Blick mehr als sinnbildlich.

Die „Factory“

So sieht sie also aus, die Zukunft des deutschen Mittelstands: Sie trägt Chino-Hosen, T-Shirts, manchmal Dreitagebart und fast immer Hornbrille. Jung sind sie, die Entwickler und Tüftler, die im Hinterhof-Ambiente unentwegt Neues entstehen lassen. Erste Station macht der MIT-Bus im nordöstlichen Zipfel von Berlin-Mitte, parkt vor einem Ensemble aus knallrotem Backstein – die „Factory“ ist die Antwort der jungen Generation auf etablierte Bürodienstleister in schnieken Innenstadtlagen. Auf rund 80 unterschiedlichen „Decks“ wird hier „Coworking“ praktiziert: Meist junge Leute teilen sich dabei ihren Arbeitsplatz mit anderen, scheinen im ständigen Austausch miteinander zu stehen und finden in der örtlichen Gastronomie-Einrichtung Gelegenheit zum Gespräch mit hochkarätigen Spontan-Besuchern. Das Mieter- und Nutzer-Portfolio der „Factory“ lässt die Herzen von Startup-Gründern schneller schlagen: Revoluzzer wie Uber (Taxidienste), Twitter (Kommunikation), SoundCloud (Musik) oder auch Internet-der-Dinge-Spezialisten wie Relayr. In diesem Augenblick wird den mitreisenden Mittelständlern bewusst: Die Revolution des Digitalen liegt weniger im Umstand der sich verändernden Technik. Vielmehr ist es die Art der Kommunikation, der Vernetzung, der Zusammenarbeit, die jede Konformität aufbricht, um nur ein Ziel zu erreichen: Ergebnisoptimierung.

Robin Tech, mit seiner AtomLeap GmbH Mieter der „Factory“, stellt den Zuhörern seinen Kunden Javier vor. Der junge Spanier erklärt in fließendem Englisch, dass er gerade an einer Sensorik-Lösung für 3D-Drucker arbeite, die in naher Zukunft Lebensmittel aus dem Drucker ermöglich soll. Erste Gespräche mit Dr. Oetker seien vielversprechend verlaufen. „Ich finde das gut“, bemerkt Tech fast beiläufig, „dass ein Unternehmen mit einer 125-jährigen Geschichte ein Ohr hat für Ideen dieser Art.“ Immobilien-Zweitnutzungen wie die von „Factory“ machen den Startup-Standort Berlin weltweit bekannt. Die Nachfrage nach Räumlichkeiten dieser Art ist so immens, dass es sehr bald weitere „Factory’s“ geben wird: „Die nächste umfasst etwa 17.000 Quadratmeter Fläche“, sagt Niclas Rohrwacher, als „Chief Risk Officer“ Chef-Risikoanalyst des Unternehmens.

Deutschlands größte Online-Spendenplattform

Auf der Grenze zwischen Friedrichshain-Kreuzberg und Treptow befindet sich die Geschäftsstelle von Deutschlands größter Online-Spendenplattform, Betterplace.org. Rauf unters Dach geht’s im Lastenaufzug. Oben angekommen, wirkt die Adresse weit weniger glamourös, eher pragmatisch. Aber auch hier darf die „Relax Area“ nicht fehlen – ein kleines Gartenhäuschen, mitten im Großraumbüro. Eine junge Frau mit Laptop und Hund sitzen darin. CEO Christian Kraus stellt die Säulen der gemeinnützigen AG vor, beschreibt, „wie doof es eigentlich ist“, dass Banken selbst bei Spendenüberweisungen Transaktionsgebühren verlangen. Mit rund 45 Leuten hätten sie bisher etwa 30 Millionen Euro an Spendengeldern eingesammelt, „rund zehn Millionen allein im letzten Jahr“. Die Spendenbereitschaft war mit Blick auf hilfesuchende Flüchtlinge groß. Kraus betont, dass 103 Prozent des Spendenvolumens ausgezahlt werden: „Wir tragen die Bankkosten aus eigenen Mitteln.“ Betterplace.org finanziert sich über andere Kanäle: Mittels Leitfäden und Workshops werden beispielsweise Nichtregierungsorganisationen (NGOs) geschult. Eine eigene Academy sei deshalb in Planung. Und wenn Bundesinnenminister Thomas de Maizière, wie geschehen, vorbeischaut, um zu sehen, was aus dem Auftrag des Ministeriums zur Errichtung eines Online-Projekts für die Unterstützung von Flüchtlingen geworden ist, dann, so Kraus, „ist das schon eine große Anerkennung für die Leute, die hier als Helfer helfen.“

Open Berlin Innovation Center

Weiter geht es nach Schöneberg, in den Schatten des Gasometers, der viele Jahre als Kulisse für die sonntägliche Talkshow von Günther Jauch herhielt. Dort, wieder im Backstein, ist ein Startup-„Campus“ entstanden. Im benachbarten ehemaligen Magazin des örtlichen Gasanbieters GASAG hat sich der US-Software-Riese Cisco mit seinem „Open Berlin Innovation Center“ niedergelassen. Operations Manager Rüdiger Klemt erklärt zunächst die sensorengesteuerte Haustechnik. Die Raumaufteilung orientiere sich an den Stationen eines Kundenauftrags: Man lernt sich zunächst einmal in der einladend großen „Meeting Area“ mit angeschlossener Getränke-Gastronomie kennen. Dort werden die „zu großen Teilen sehr individuellen Kundenwünsche“ auf Plausibilität überprüft. „Wie bei einem Arzt“ sei dabei „jeder Case“ unterschiedlich, sagt Klemt. Nachdem der Kunde sein Problem einem Team von hochkarätigen Denkern geschildert habe, sei Cisco in der Lage, mögliche Prototypen herzustellen, vor Ort. Der MIT-Tross bewegt sich ins erste Obergeschoss und besichtigt ein Labor, das Erinnerungen an Kult-Regisseur Steven Spielberg und seine Basteleien für den Filmerfolg „E.T.“ weckt: Lötkolben, Platinen, Kabelwirrwarr… und mittendrin ein 3D-Drucker. „Wir arbeiten nach dem Prinzip ‚Win fast, kill fast‘“, sagt Klemt etwas kryptisch und meint damit, dass schlechte Ideen schnell wieder verworfen werden. „Denglisch“ scheint die Sprache der neuen Wirtschaftswelt. Alle Möbel im Haus seien „refurnished“, also gebraucht. Im Dachgeschoss gibt es die „No Shoes Area“, ein ziemlich großer Entspannungsbereich mit Hängematten und Sitzkissen, den man auf Socken betreten soll. Dort geht man mit dem Kundenauftrag dann auch schon mal in den „deep dive“, taucht tiefer ein.

Die Entscheidung für den Standort Berlin sei bei Cisco aus mehreren Faktoren heraus getroffen worden: Berlin habe inzwischen die größte Startup-Dichte in Europa und damit Metropolen wie London, Paris oder Barcelona hinter sich gelassen. Viel Startup bedeute eine Vielzahl an Expertise. Außerdem habe die Stadt zahlreiche Universitäten und Hochschulen mit gut ausgebildetem Personal, was wiederum viele motivierte Studierende mit Bachelor- oder Masterabschluss bedeutet. Bei der Verabschiedung der Gäste erwähnt Ciscos Politik-Beauftragter Wolfgang Percy Ott ganz beiläufig, dass der Konzern gerade beschlossen habe, in den nächsten drei Jahren 500 Millionen US-Dollar in Deutschland investieren zu wollen, „damit die deutsche Industrie in Sachen Digitalisierung wettbewerbsfähig bleibt“.

Inzwischen hat sich die Bundestagsabgeordnete Christina Schwarzer zur Gruppe hinzugesellt. Die Rückfahrt ins Zentrum nutzt sie, um von der Arbeit des Ausschusses Digitale Agenda zu berichten. Die Krux sei, dass die digitale Kompetenz auf drei Ministerien verteilt ist: „Das macht den Lösungsfindungsprozess nicht einfacher“, sagt Schwarzer.

„Get together“ mit Startup-Pitch

Im Dachgeschoss gelegen präsentiert sich dann Vodafone als visionäre Kommunikationsmarke, mit erstaunlichem Weitblick über die russische Botschaft und den Reichstag hinweg. Die Politik-Beauftragte Ingrid Haas erläutert die Arbeit von Vodafone an diesem Standort. Neben der Konzernrepräsentanz würde das Loft auch das Vodafone Institut und die Stiftung (unter der Leitung des früheren CDU/CSU-Fraktionsplanungschefs Mark Speich) beherbergen. Zur vorgerückten Stunde gehört die Bühne fünf jungen Startup-Unternehmern, die jeweils ihr Konzept vorstellen, mit dem sie künftig den unerschöpflichen Markt an guten Ideen bereichern wollen (siehe Infokasten). Als Dank für ihr Engagement lädt MIT-Geschäftsführerin Astrid Jantz sie zum nächsten „MIT Futura“-Kongress ein. Ähnlich begann die Geschichte der AtomLeap GmbH von Robin Tech vor einem Jahr. Das ist die ungefähre Zeitspanne, in der heute Konzerne von Weltrang entstehen.