Arbeit 4.0: Streit um die neue Arbeitswelt

Datum des Artikels 12.07.2017
MittelstandsMagazin

Home Office, Vertrauensarbeitszeit und viel Flexibilität. Das erwarten Berufseinsteiger heute von ihrem Arbeitgeber. Denn die Digitalisierung macht auch vor der Arbeitswelt nicht halt und formt sie komplett neu. Mittelständler sollten darauf reagieren, sich aber auch der Grenzen von Arbeit 4.0 bewusst sein.

Gernot Pörner bringt seinen Sohn jeden Morgen mit dem Fahrrad zur Kita. Meistens setzt er den Dreijährigen gegen 8:30 Uhr an der Einrichtung ab und radelt dann weiter zu seinem Arbeitsplatz. Doch als Vater von drei Kindern stellt sich bei Pörner nur selten Routine ein. Mal ist eines der Kinder krank, ein anderes Mal steht ein Kontrolltermin beim Arzt an. Dafür muss sich Pörner nicht freinehmen, denn sein Arbeitgeber unterstützt sein Familienleben mit viel Flexibilität und Rücksichtnahme. Pörner arbeitet als IT-Manager beim Leipziger E-Commerce Unternehmen Spreadshirt. T-Shirts kann man online bei Spreadshirt kaufen und sie auch selbst gestalten und zum Kauf anbieten. 2002 wurde Spreadshirt gegründet und beschäftigt heute rund 750 Mitarbeiter auf der ganzen Welt. Obwohl es inzwischen als ein mittelständisches Unternehmen gilt, spürt man immer noch den Gründergeist in den großen Hallen in Leipzig-Plagwitz. Das liegt vor allem daran, dass Spreadshirt die Transformation der Arbeitswelt sehr ernst nimmt, auf Digitalisierung setzt und das Unternehmen mit wenig strikten Regeln geführt wird. 

Mit dem Beginn des Informationszeitalters und der digitalen Revolution hat sich die Arbeitswelt nachhaltig verändert. Digitalisierung und starre Arbeitszeiten passen nicht mehr zusammen. Deshalb werden die gesetzlichen Regelungen zur Arbeitszeit schon seit längerem diskutiert. „Hier stechen besonders Regelungen im Arbeitszeitgesetz hervor, die noch aus Zeiten stammen, in denen die körperlich harte Arbeit noch die Regel war“, sagt Jana Schimke, CDU-Bundestagsabgeordnete und MIT-Sprecherin für Arbeit und Soziales. „Durch den Wandel der Arbeitswelt haben wir es heute mit anderen Berufsbildern zu tun“, so Schimke. Deshalb fordert nicht nur die MIT, sondern auch Arbeitgeberverbände, dass eine Wochenhöchstarbeitszeit die Tageshöchstarbeitszeit ablösen soll und Unternehmen weitaus flexibler arbeiten können.

Auch bei der derzeitigen Regelung zur Ruhezeit soll mehr Flexibilität geschaffen werden. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) lehnt eine Änderung des Arbeitszeitgesetzes ab: Mehr Flexibilität dürfe sich nicht zu Lasten der Beschäftigten auswirken. Diese Forderung unterstützt auch die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA): „Das Arbeitszeitgesetz ist nicht Teil der Wirtschaftspolitik. Es soll weder die Wünsche der Unternehmen noch der Arbeitnehmer erfüllen“, sagt der CDA-Bundesvorsitzende Karl-Josef Laumann. Es solle die Beschäftigten vor Arbeitsunfällen, Überlastung und langfristigen Gesundheitsfolgen schützen. „Deshalb wurde es nach den Erkenntnissen der Unfall- und Gesundheitsforschung gestaltet“, so Laumann. An diesen Erkenntnissen habe sich bis heute nichts geändert, deshalb gebe es derzeit auch keinen Grund am Arbeitszeitgesetz herumzudoktern. Mit anderen Worten: Auch wenn sich Arbeitnehmer aus neuen digitalen Berufsfeldern flexiblere Arbeitszeitgrenzen und Pausenvorgaben wünschen, sollen diese weiterhin gelten.

Im Fokus: Mitarbeitermotivation stärken

Spreadshirt hat sich mit diesen Anforderungen seit seiner Gründung auseinandergesetzt. Vor allem auf die Unternehmenskultur setzt das Unternehmen einen Fokus. Dafür hat Spreadshirt bereits vor fünf Jahren eine Feel-Good-Managerin eingestellt. Stefanie Frenking ist nicht nur für Partys und Ausflüge zuständig, sondern kümmert sich vor allem um die interne Kommunikation und ist Ansprechpartnerin für neue Kollegen. „Feel-Good-Management heißt, die Unternehmenskultur nach innen als auch nach außen zu kommunizieren“, sagt Frenking. Zu ihren Aufgaben gehört es beispielsweise auch, neuen Mitarbeitern bei der Wohnungssuche und Behördengängen zu helfen. Auch Gernot Pörner hat die Feel-Good-Angebote schon in Anspruch genommen: „Einmal im Jahr veranstaltet Spreadshirt einen Wandertag. Wir fahren in eine nahegelegene Stadt und verbringen den Tag mit Spielen, Essen und lustigen Aktivitäten.“ Das fördere die Mitarbeitermotivation sehr und stärke die Bindung zum Unternehmen, sagt der IT-Manager.

Ohne flexible Arbeitszeiten könnte sich Gernot Pörner nicht täglich um seinen Sohn kümmern.

Dass Spreadshirt eine Feel-Good-Managerin beschäftigt, ist nur eines von vielen Attributen, die es als ein Unternehmen der neuen Arbeitswelt charakterisiert. Theresa Kretzschmar, Personalleiterin beim Unternehmen, bezieht vor allem die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in ihre tägliche Arbeit ein. „Beruf und Familie möchten die Mitarbeiter unter einen Hut bekommen und ihren Arbeitstag nach ihren Bedingungen gestalten. Das berücksichtigen wir, indem wir zum Beispiel mobiles Arbeiten unterstützen.“ An stationären Computern würde kaum noch gearbeitet und 70 Prozent der Mitarbeiter sind mit einem Laptop ausgestattet. „So kann man auch mal von zu Hause oder unterwegs arbeiten, wenn zum Beispiel der Heizungsableser kommt oder das Kind zum Chor oder Sport gebracht werden muss. Dafür müssen sich unsere Mitarbeiter nicht extra Urlaub nehmen oder die Arbeitszeit dauerhaft reduzieren, obwohl das natürlich auch möglich wäre“, sagt Kretzschmar.

Kompromiss zwischen Arbeitnehmerschutz und notwendiger Flexibilität

Mit dem „Weißbuch Arbeiten 4.0“ hat auch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im März die Transformation der Arbeitswelt in den Mittelpunkt gerückt. Dabei wird vor allem ein Blick auf die Trends der heutigen Arbeitswelt geworfen: Digitalisierung, Globalisierung, demografischer Wandel, Bildung und Migration sowie der Wandel von Werten und Ansprüchen. Doch diese Schlagworte geben noch keine konkreten Antworten auf die brennenden Fragen, die sich Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber in diesem Kontext stellen. „Unsere Arbeitswelt befindet sich im stetigen Wandel. Dieser Realität müssen wir uns stellen“, meint auch Jana Schimke. Weitere Regulierungen im Kontext des Arbeitszeitgesetzes und der Arbeitsstättenverordnung legen in diesem Fall Arbeitgebern und Arbeitnehmern noch mehr Steine in den Weg. Deshalb brauche es einen guten Kompromiss zwischen Arbeitnehmerschutz einerseits und der notwendigen Flexibilität der Unternehmen andererseits. „Arbeit 4.0 ermöglicht es, orts- und zeitunabhängig zu arbeiten und eröffnet Arbeitgebern und Arbeitnehmern gleichermaßen große Chancen. Als Gesetzgeber wollen wir dafür den Rahmen schaffen, der aber nicht zu starr sein sollte“, sagt Schimke. „Deshalb bin ich froh darüber, dass der erste Entwurf der Arbeitsstättenverordnung aus dem Bundesarbeitsministerium so nicht umgesetzt, sondern deutlich verändert wurde.“

Während es in Bürojobs inzwischen etabliert ist mobil zu arbeiten, stößt Flexibilität in anderen Bereichen auch an ihre Grenzen. „Natürlich kann Flexibilität nicht in allen Abteilungen gewährleistet werden. In unserer Produktion sind Kernarbeitszeiten sehr wichtig, oder auch im Kundenservice. Es liegt in der Natur der Sache, dass manche Jobs weniger flexibel gestaltet werden können“, sagt Personalerin Theresa Kretzschmar von Spreadshirt. Für Jobs, die hauptsächlich im Büro ausgeübt werden oder die keinen direkten Kundenkontakt mit sich bringen, legt Spreadshirt jedoch keine festen Kernarbeitszeiten fest. „Uns ist das Ergebnis der Arbeit wichtig. Bei uns können die Mitarbeiter auch mal eine Runde kickern oder Tischtennis spielen. Hauptsache die Arbeit wird erledigt. Die Zeiteinteilung überlassen wir unseren Mitarbeitern“, sagt Kretzschmar. Die jeweiligen Teams und ihre Manager würden über feste Arbeitszeiten entscheiden. Dies bestätigt auch Gernot Pörner, der sich einen Job mit weniger Flexibilität nicht mehr vorstellen kann. „Ich habe den direkten Vergleich, denn bevor ich zu Spreadshirt gekommen bin, habe ich im öffentlichen Dienst gearbeitet. Dort waren die Regeln etwas strikter und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie forderte mehr Energie.“

Zu viel Freiheit und Flexibilität birgt Gefahren

Flexibler zu arbeiten bedeutet aber nicht immer mehr Gestaltungsspielraum für Arbeitnehmer. Arbeitszeiten in den Abendstunden oder am Wochenende können die Folge von zu viel Flexibilität und ständiger Verfügbarkeit sein. Arbeitszeit und Freizeit werden weniger planbar und können miteinander verschmelzen. Professor Timo Meynhardt, Psychologe und Betriebswissenschaftler an der HHL Leipzig Graduate School of Management und der Universität Sankt Gallen, warnt davor, dass sich Arbeits- und Privatleben zu sehr vermischen. „Die Verschmelzung von Arbeits- und Privatleben kann gefährlich sein. Arbeitgeber greifen heute teilweise zu sehr in das Privatleben ihrer Mitarbeiter ein und Ausbeutung kann eine Folge sein“, sagt Meynhardt. Auch Flexibilität habe gewisse Grenzen. Entfaltungsmöglichkeiten brauchen laut Meynhardt einen Rahmen, sonst verkommen sie zu Willkür und Desorientierung.

Ein bisschen Arbeit zuhause, ein bisschen Freizeit auch im Büro.

Viele Unternehmen befinden sich aktuell noch in einer Grauzone, wenn sie versuchen, Flexibilität und Freiheit mit dem Arbeitszeitgesetz und der Arbeitsstättenverordnung zu vereinbaren. „Statt Tageshöchstarbeitszeiten brauchen wir zum Beispiel eine Wochenhöchstarbeitszeit, die weitaus flexibleres Arbeiten für Arbeitgeber und Arbeitnehmer ermöglicht. Auch bei den derzeitigen Regelungen zur Ruhezeit sollten wir Flexibilität schaffen", fordert MIT-Sprecherin Jana Schimke. Unterbrechungen der gesetzlich vorgeschriebenen Ruhezeit von elf Stunden sollten für tarifgebundene und auch tarifungebundene Betriebe gleichermaßen gelten. Voraussetzung dafür sollte aber auch sein, dass die Flexibilität der Arbeitnehmer nicht ausgenutzt wird. Denn das könne den Grad der Ausbeutung erhöhen, sagt Meynhardt. Die scheinbare Freiheit, die Arbeitnehmern gegeben wird, kann dazu führen, dass Mitarbeiter Überstunden ansammeln und sich verpflichtet fühlen, zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichbar zu sein. „Unternehmen sollten deshalb klare Regeln setzen. Das Handy sollte auch mal ausgeschaltet sein und man muss nicht ständig seine E-Mails abrufen“, sagt Meynhardt. Die schöne neue Arbeitswelt sei deshalb oft ein zweischneidiges Schwert. Auch wenn Gernot Pörner von Spreadshirt abends schon nochmal in seine E-Mails schaut und wenige Male im Jahr Bereitschaftsdienst hat, schätzt er die flexible Arbeit im Unternehmen sehr. Die Wochenenden sind dem Familienvater jedoch heilig.