MIT-Kreisverband Lingen: Akademieabend mit Hildegard Müller: Wann kommt die Energiewende? – Perspektiven unter Zeitdruck

Datum des Artikels 08.06.2017

Bei der Energiewende sind bereits zahlreiche Erfolge zu verzeichnen. Das Ludwig-Windthorst-Haus und die MIT-KV Lingen, Meppen, Aschendorf-Hümmling und Grafschaft Bentheim veranstalteten einen Akademieabend mit Hildegard Müller, Vorstand Netze & Infrastruktur der RWE-Tochter innogy SE.

Lingen ist von den Entwicklungen ganz besonders betroffen, Ende 2022 wird das Kernkraftwerk Emsland vom Netz gehen. Die Gasblöcke ein Stück weiter sind deutlich seltener in Betrieb als früher, da sie von den Erneuerbaren Energien aus dem Markt gedrängt werden. Dennoch kann derzeit noch nicht von einer wirklichen Energie-, sondern vielmehr lediglich von einer Stromwende gesprochen werden. Dies liegt daran, dass die Bereiche Verkehr und Wärme, bei denen ein Großteil der CO2-Emmissionen entstehen, derzeit noch außer Betracht gelassen werden. Müller erweitere das Thema des Abends daher so: „Wann kommt die wirkliche Energiewende?“ innogy treibt die Energiewende entschlossen mit voran. In dem Unternehmen sind die Bereiche Erneuerbare Energien, Vertrieb und Netze aus dem alten RWE-Konzern gebündelt worden. Von der Struktur her ist innogy damit der erste vollständige Energiewende-Konzern. RWE besitzt noch rund 77 % der Anteile an innogy. RWE will nach gegenwärtiger Beschlusslage Mehrheitseigentümerin bleiben, führt innogy lediglich als Finanzbeteiligung. innogy ist damit in der strategischen und operativen Unternehmensführung frei. Innogy erwirtschaftet einen Umsatz von rund 46 Mrd. Euro jährlich und gehört damit zu den 20 umsatzstärksten Unternehmen Deutschlands (vor Unternehmen wie ThyssenKrupp, Deutsche Bahn, Lufthansa oder Continental). Es versorgt derzeit rund 16 Millionen Stromkunden und 7 Millionen Gaskunden in elf europäischen Märkten. Mit mehr als 40.000 Mitarbeitern ist das Unternehmen einer der Top10-Arbeitgeber in NRW und einer der Top100-Arbeitgeber in Deutschland. Müller verantwortet ein Netz mit einer Länge von insgesamt 574.000 km in fünf europäischen Ländern. Dezentralisierung, Dekarbonisierung und Digitalisierung Der Klimaschutz ist heute das zentrale energiepolitische Ziel. Die Politik will eine Dekarbonisierung der Gesellschaft – also die stetige Reduzierung der Nutzung fossiler Brennstoffe. Bundesregierung und EU haben sich zum Ziel gesetzt, den Treibhausgasausstoß bis 2050 um 80 bis 95% zu reduzieren. Die Energiewelt wird sich deshalb von Grund auf verändern: Erneuerbare Energien werden eine dominierende Rolle im weltweiten Energiemix einnehmen. Aktuell trägt Ökostrom zu rund einem Drittel der Stromerzeugung in Deutschland bei. Gleichzeitig wächst der Druck auf den Netzausbau. Das gilt für die Ebene der Übertragungsnetze, aber insbesondere für die Verteilnetze. Es muss sichergestellt werden, dass der Netzausbau mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien Schritt hält. Um die Kosten für die Stabilisierung der Netze zu senken, müssen Netzentwicklung und Erneuerbaren-Ausbau stärker miteinander verzahnt werden. Das ist der Status quo. Doch es gibt weitere Faktoren, welche die Anforderungen an die Energieversorger weiter verschärfen und die die Energiewende in den kommenden Jahren prägen werden. Diese Trends lassen sich mit drei „Ds“ beschreiben: Dezentralisierung, Dekarbonisierung und Digitalisierung. Sie sind die Schlüsselfaktoren der Zukunft: Sie werden die künftige Entwicklung der Energiewirtschaft prägen. Vielleicht kann man sagen, dass die Trends den Weg der Energiewende (und damit den Status quo) verschärfen. Dekarbonisierung steht – insbesondere seit dem Klimaschutzabkommen von Paris – auf der internationalen Agenda. Der Ausbau der Erneuerbaren geht voran, deswegen wird Stromerzeugung immer dezentraler. Gleichzeitig ermöglicht die Digitalisierung eine bessere Integration der Erneuerbaren und neue Geschäftsmodelle. Diese drei Megatrends bedingen und verstärken sich gegenseitig. innogy stellt sich darauf ein und treibt die Entwicklung aktiv voran. Das Unternehmen sieht sie als große Herausforderung und zugleich als vielversprechende Möglichkeit. Sektorkopplung als Schlüssel für eine wirkliche Energiewende Wie bereits eingangs erwähnt: Von einer wirklichen Energiewende sind wir noch ein gutes Stück entfernt. Mag auch der rasante Ausbau der Erneuerbaren etwas anderes suggerieren. Die Dekarbonisierung kann nicht ausschließlich im Stromsektor stattfinden, sondern ist auch im Wärme- und Verkehrssektor nötig. Die Stromerzeugung ist nur für 40% der CO2-Emissionen verantwortlich. Mindestens 40-55% der Einsparungen müssten also aus anderen Sektoren kommen, insbesondere aus dem Wärme- und Verkehrssektor. Das Ziel ist daher klar: Deutschland benötigt eine wirkliche Energiewende, nicht nur eine Stromwende. Vor allem wegen der hohen Energieeffizienz ist die direkte Nutzung erneuerbaren Stroms in elektrischen Wärmeerzeugungstechnologien und E-Fahrzeugen hervorragend geeignet, um die Dekarbonisierung in diesen Sektoren voranzutreiben. E-Fahrzeuge können zum Beispiel als Speicher für Überschussstrom aus der erneuerbaren Stromerzeugung oder bei Engpässen als Reserve dienen. Müller fordert, dass die Voraussetzungen für eine Sektorkopplung geschaffen werden, damit Überschussstrom aus den erneuerbaren Quellen ökonomisch sinnvoll in den Bereichen Wärme und Transport eingesetzt werden kann. Was ist dazu nötig? Strom muss ein fairer Wettbewerb gegenüber anderen Energieträgern ermöglicht werden. Tatsache ist, dass die Abgaben auf Strom sehr hoch sind. Erdgas- und KWK-Anlagen können eine Rolle spielen, sofern sie sich im fairen Wettbewerb gegen strombasierte Optionen zur Dekarbonisierung behaupten und „grüner“ werden. Die Sektorkopplung erfordert mittelfristig höhere Ausbauziele für Erneuerbare als momentan im EEG für den Stromsektor vorgeschrieben werden. Es braucht mehr Anreize für Stromkunden, ihren Verbrauch in Zeiten zu verlagern, in denen es besonders viel grünen Strom gibt. Heute funktioniert das Signal „günstiger Strom – mehr Verbrauch“ vor allem wegen des hohen Anteils an Steuern, Abgaben und Netzentgelten für jede einzelne Kilowattstunde nicht. Energiewende findet im Verteilnetz statt Die Verteilnetze sind das Rückgrat der Energiewende und haben die Schlüsselrolle für Versorgungssicherheit. 90% der erneuerbaren Erzeugungsleistung wird hier eingespeist. Die Gestaltung der Energiewelt ist insbesondere eine Frage intelligenter Netze, innovativer Steuerungsmechanismen und Speicherkapazitäten. Ein intelligentes Verteilnetz bedeutet: Klimaschutz, Systemstabilität und Kosteneffizienz! Insgesamt nimmt die Dezentralität des Energiesektors zu. Daher bedarf es insbesondere investi-tionswilliger und -fähiger Verteilnetzbetreiber. Mit rd. 550.000 km Netz ist innogy einer der leis-tungsstärksten Verteilnetzbetreiber in Zentraleuropa. Mit dem vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Projekt Designetz will innogy die Bauanleitung für das Energiesystem der Zukunft erstellen. Designetz zahlt in einem Zuge auf alle drei Megatrends der Energieversorgung ein. Wir bündeln die technologische Expertise verschiedener Branchen. Und innogy denkt dabei über Sektorengrenzen hinaus. Der Anspruch lautet: Ein neues, kohärentes und effizientes Energiesystem für alle Sektoren – regenerativ gespeist, dezentral aufgebaut, digital gesteuert. Dies soll anhand von dreißig Projektbeispielen demonstriert werden. Zehn dieser Projektbeispiele gibt es bereits, u.a. die Power-to-Gas-Anlage in Ibbenbüren oder der mobile Batteriespeicher in Wettringen. Zwanzig weitere werden neu aufgebaut. Strom wird in Zukunft nicht mehr vorrangig durch einige, wenige zentrale Großerzeuger zur Verfü-gung gestellt, sondern vorrangig dort verbraucht, wo sie erzeugt wird – auf lokaler und regionaler Ebene. Herrscht dort ein Überschuss oder Unterangebot, kommt die überregionale Ebene zur Hilfe. Die Schwankungen im Stromnetz entstehen durch die stetig steigende Anzahl von PV-Anlagen und Windrädern, die ihre Energie immer dann ins Netz einspeisen, wenn die Sonne scheint oder der Wind weht. Zusätzlich übersteigt bereits heute in vielen Regionen Deutschlands die produzierte Strommenge zeitweise den regionalen Bedarf. Eine Möglichkeit wäre es nun, das Stromnetz so auszubauen, dass die gesamte Stromproduktion zusätzlich aufgenommen werden kann. Hierzu müssten in erheblichem Umfang neue, leistungsstarke Erdkabel verlegt werden. Doch Netzausbau ist nicht nur teuer, sondern benötigt auch oft lange Genehmigungszeiten. Hier sollte das innogy-Projekt ansetzen und innovative Lösungen erproben. Die intelligente Netzsteuerung sorgt dafür, dass die Einspeisekapazität des örtlichen Stromnetzes im Vergleich zu einem herkömmlichen Netz um 17 Prozent erhöht wird. Ein notwendiger Netzausbau könnte entsprechend verzögert werden. Gleichzeitig kann die Steuerung die Verluste im Netz um 20 bis 30 Prozent verringern. Aber auch die Versorgungsqualität für die Stromkunden wird durch die intelligente Steuerung deutlich verbessert. Die Ausfallzeiten können um etwa 30-40 % gesenkt werden. Wenn es dennoch zu einer Störung kommt, wird die Zeit bis zur Wiederversorgung um mehr als 20 Prozent gesenkt. Das Projekt zeigt daher ganz klar: Unsere Netze brauchen mehr Intelligenz statt nur mehr Kupfer. Müller beendete ihren Vortrag mit einem starken Plädoyer pro Europa: Europa ist in einer ernsten Krise. Und diese nimmt bedrohliche Züge an. innogy als fest in der EU verwurzeltes Unternehmen ist demnach direkt davon von der aktuell herrschenden Europaskepsis betroffen. Täglich profitiert jeder Einzelne von uns von der europäischen Einheit, dem EU-Binnenmarkt und der geopolitischen Stabilität, die uns Europa bietet. Jeder Schritt, der darauf abzielt, die europäische Integration zurückzudrehen, stellt für unser Unternehmen und seinen weiteren Erfolg eine Bedrohung dar. innogy und ihre Partner haben beschlossen, aktiv zu werden und sich öffentlich zu positionieren – für ein offenes, für ein vereintes, für ein starkes Europa! Gemeinsam wollen die Unternehmen den gesellschaftlichen Kräften Rückendeckung geben, die sich aktiv für ein vereintes Europa einsetzen.

Foto (v.l.): Dr. Michael Reitemeyer (LWH), Hermann Hesse (MIT), Hildegard Müller und Helmut Holt (MIT)