
Für Rita van Döllen-Mokros kommt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) wie aus einer anderen Welt: „Diese Entscheidung passt nicht in die Arbeitswelt von heute. Die Realität ist doch, dass sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber heute mehr Flexibilität wünschen“, sagt die Architektin und MIT-Kreisvorsitzende aus Oldenburg. Die Unternehmerin führt in zweiter Generation ein Architekturbüro mit fünf Mitarbeitern. „Wir kommen seit mehr als 50 Jahren auch ohne Stechuhr aus. Die Arbeitszeit mit gegenseitigem Vertrauen hat immer geklappt.“
EU-Staaten müssen Urteil umsetzen
Nach dem EuGH-Urteil sollen Arbeitgeber wie van Döllen-Mokros verpflichtet werden, die gesamte Arbeitszeit ihrer Beschäftigten systematisch zu erfassen. Das Urteil muss von allen EU-Ländern umgesetzt werden, entschieden die obersten EU-Richter Mitte Mai in Luxemburg. Ihrer Argumentation nach ließe sich nur über ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ überprüfen, ob gesetzliche Arbeitszeiten überschritten würden. Wie die einzelnen Länder das gestalten, soll ihnen überlassen werden. Es sei erlaubt, auf Besonderheiten eines Tätigkeitsbereichs und Eigenheiten des Unternehmens, etwa der Größe, einzugehen.
Familienunternehmer warnen
Vor einer kompromisslosen Umsetzung warnen deshalb auch die Familienunternehmer: „Das Urteil ist eine Zeitreise in die Vergangenheit. Eine Eins-zu-eins-Umsetzung in deutsches Recht würde alles auf den Kopf stellen, was ein modernes Unternehmen mit seinen Mitarbeitern machen sollte“, sagt Peer-Robin Paulus vom Verband der Familienunternehmer. Auch der Arbeitgeberverband BDA fordert, dass die Entscheidung keine Nachteile für Arbeitnehmer mit sich bringen dürfe, die schon heute flexibel arbeiten. Dagegen begrüßte Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), das Urteil: „Das Gericht schiebt der Flatrate-Arbeit einen Riegel vor – richtig so.“ Die Anzahl unbezahlter Überstunden bewege sich in Deutschland seit Jahren auf einem inakzeptabel hohen Niveau. „Die Flexibilität wird darunter absolut nicht leiden“, glaubt Buntenbach, „ganz im Gegenteil: Statt mit der Stechuhr könnte man heutzutage schließlich per Smartphone und App die Arbeitszeit dokumentieren.“ Bei der konkreten Umsetzung aber drohen Schwierigkeiten. Gilt eine Abendveranstaltung zur Kontaktpflege grundsätzlich als Arbeitszeit? Wie wird die Arbeitszeit einer Forscherin berechnet, die über Monate hinweg über ein Problem nachdenkt? Auch Home-Office oder Außendienst müsste nach dem Urteil künftig registriert werden. Wird abends noch eine E-Mail gelesen, müsste auch das als Arbeitszeit erfasst werden.
Bürokratiewelle droht
Für Unternehmen würde das vor allem eines bedeuten: mehr Bürokratie. Derzeit müssen Arbeitgeber in Deutschland nur die Arbeitszeit erfassen, die über acht Stunden am Tag hinausgehen. Dazu kommt die Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen sowie Aufzeichnungspflichten zur Kontrolle des Mindestlohns. Der Arbeitsrechtsexperte Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln sieht deshalb eine neue Bürokratiewelle auf die deutschen Unternehmen zurollen. „Müssten künftig alle Arbeitszeiten aufgezeichnet werden, entstünde ein erheblicher Mehraufwand in den Betrieben – ohne dass erkennbar wäre, inwieweit das einem effektiven Schutz von Arbeitnehmern dienen könnte“, so Schäfer, der auch Mitglied der MIT-Kommission Arbeit und Soziales ist. „Die zahlreichen bestehenden Vertrauensarbeitszeit- Modelle würden ihres Vorteils beraubt: Bürokratie tritt an die Stelle des Vertrauens.“
Bundesregierung will Urteil prüfen
In der Bundesregierung werden die Auswirkungen des Urteils unterschiedlich bewertet. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) kündigte an, das Urteil genau zu prüfen und ein
Rechtsgutachten in Auftrag zu geben. „Wir prüfen aktuell, ob es überhaupt Umsetzungsbedarf aus dem Urteil gibt“, teilte eine Ministeriumssprecherin dem Mittelstandsmagazin mit. Eine vorschnelle Umsetzung lehnt Altmaier jedoch ab: „Es ist der falsche Weg, die Stechuhr wieder überall einzuführen. Wir wollen und müssen die Interessen der Arbeitnehmer schützen, aber wir dürfen keine überbordende Bürokratie schaffen“, so der Minister. Darüber hinaus verweist das Ministerium darauf, dass es in Deutschland nach derzeitiger Rechtslage bereits ein umfassendes Dokumentationssystem gebe, mit dem die tägliche Arbeitszeit gemessen werden könne. Dagegen kündigte Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) an, das Urteil rasch umzusetzen. Er will dem Bundestag noch in diesem Jahr einen Entwurf zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes vorlegen.
Arbeitsrecht muss modernisiert werden
Die MIT dagegen will das Urteil als Aufhänger nutzen, um das deutsche Arbeitsrecht zu modernisieren. Dazu soll die bislang bestehende tägliche Höchstarbeitszeit abgeschafft und durch eine wöchentliche Höchstarbeitszeit ersetzt werden. Die Mindestruhezeit soll für Heimarbeit unterbrochen werden können, wenn es der Arbeitnehmer wünscht. Außerdem fordert die MIT weitere Flexibilisierungsmöglichkeiten durch tarifvertragliche Öffnungsklauseln und großzügigere Ausgleichszeiträume. Vertrauensarbeitszeit soll auch künftig im Rahmen des geltenden Arbeitszeitrechts möglich sein. Arbeitnehmer sollen also weiterhin selbstständig über Beginn und Ende der Arbeitszeit entscheiden, wenn der Arbeitgeber ihnen die Möglichkeit dazu einräumt. Eine permanente Überwachung der Arbeitszeit durch die Arbeitgeber lehnt die MIT ab. Vorschläge, die auch Rita van Döllen-Mokros unterstützt: „Damit würden die Möglichkeiten der Digitalisierung berücksichtigt und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtert. Das käme allen entgegen.“ Für die Architektin, die derzeit einer Mitarbeiterin einen Heimarbeitsplatz ermöglicht, ist etwas anderes entscheidend: „Die Arbeitszeiten der Mitarbeiter sind schon jetzt recht unterschiedlich. Mir ist nicht wichtig, wann die Arbeit erbracht wird. Entscheidend ist, dass sie erbracht wird.“
Dieser Artikel erschien im Mittelstandsmagazin, Ausgabe 3-2019
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