Brauchen wir ein bundesweites Zentralabitur?

Datum des Artikels 25.06.2021
MittelstandsMagazin

Die 16 Bundesländer haben sich im vergangenen Jahr auf mehr zentrale Elemente beim Abitur geeinigt. Das Ziel ist eine bessere Vergleichbarkeit in der Bildung. Braucht es nun auch ein vollständig einheitliches Zentralabitur in allen Bundesländern? Oder schwächt das zu sehr den Leistungsgedanken? Die beiden Ministerinnen sind sich trotz aller Unterschiede im Schlusssatz ganz bewusst einig.



Pro: Eines für alle

80 Prozent der Deutschen sind für ein Zentralabitur. Ich bin es auch. Leistung muss sich überall gleich auszahlen. Die Abinote darf nicht vom Wohnort abhängen. Im ganzen Land sollten dieselben hohen Maßstäbe angelegt werden, damit Absolventinnen und Absolventen, egal wo sie ihr Wissen unter Beweis gestellt haben, dieselben Chancen bei der Wahl ihres Berufswegs haben. 
Unsere Bildungsstandards sind hoch und gelten bundesweit. Das spricht ebenfalls für ein Abitur, das vergleichbar und transparent ist. Die Hauptfrage ist: Wie kommen wir zu einheitlichen Standards? Wir sind kein Zentralstaat, sondern haben ein bewährtes föderales System. Deshalb ist diese Frage sowohl bildungspolitisch wie auch wissenschaftlich ziemlich komplex.

Einen Teil der Aufgaben für das schriftliche Abitur erarbeitet das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen bereits zusammen mit den Ländern. Nur nutzen die Länder den Aufgabenpool bislang so, wie sie möchten. Nach langen Diskussionen haben sie sich geeinigt, das künftig einheitlicher zu handhaben. Diesen Schritt hin zu einem Zentralabitur begrüße ich. Und ich wünsche mir, dass die Länder diesen Weg konsequent weitergehen: zum Beispiel bei den noch nicht berücksichtigten Fächern. Impulse erhoffe ich mir auch von der Ständigen wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz, deren Ziele die „Sicherung und Entwicklung der Qualität“ sowie die „Verbesserung der Vergleichbarkeit des Bildungswesens“ sind. Dies unterstütze ich von Bundesseite gern. Guter Föderalismus heißt, bei aller Verschiedenheit dennoch gemeinsamfür die Qualität des Gesamtstaates zu sorgen und zu bürgen.

Zu mehr Vergleichbarkeit beim Abitur hat im Übrigen auch das Bundesverfassungsgericht aufgefordert. Für Fächer wie Medizin gibt es sehr viel mehr Bewerberinnen und Bewerber als Studienplätze. Da können Nachkommastellen der Abi-Durchschnittsnote Lebensjahre zu Wartejahren machen. Der Wettbewerb der Bildungssysteme ist da kein gutes Argument, um Abiturientinnen und Abiturienten aus Ländern mit strengeren Prüfungen und schwierigere Aufgaben das Leben schwer zu machen. Was wir brauchen ist eine hohe und vergleichbare Qualität für alle, egal in welchem Bundesland sie Abitur machen – in Aachen und Görlitz genau wie in München und Flensburg.

Anja Karliczek (50) ist Bundesministerin für Bildung und Forschung. Sie ist gelernte Bank- und Hotelfachfrau sowie Diplom-Kauffrau. Die verheiratete Mutter von drei Kindern arbeitete einige Jahre im familieneigenen Hotelbetrieb und zog 2013 im Wahlkreis Steinfurt III in den Bundestag ein.

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Contra: Leistung durch Vielfalt

Wir brauchen in Deutschland ein vergleichbares Abitur – aber wir brauchen kein gleiches Abitur. Die Unionsparteien stehen wie keine andere Partei für den Leistungsgedanken. Leistung entsteht durch Wettbewerb – und Wettbewerb braucht Vielfalt. Damit der Föderalismus seine Stärke entfalten kann und zur Win-Win-Situation führt, müssen die Länder mehr miteinander kooperieren und voneinander lernen.
Im Oktober 2020 hat die Kultusministerkonferenz die Ländervereinbarung über die gemeinsame Grundstruktur des Schulwesens beschlossen. Aber das ist ausdrücklich kein Schritt hin zu einem Zentralabitur. Noch immer entscheiden die Länder über die Hälfte der Aufgaben selbst. Und das ist gut so. Das Abitur in Deutschland soll ausdrücklich die Leistungen der Abiturientinnen und Abiturienten bewerten, die während der gesamten Oberstufe erbracht werden.
Unsere Lehrkräfte sind hochqualifizierte Expertinnen und Experten – sie müssen individuelle Schwerpunkte setzen können, die sich auch im Abitur widerspiegeln. Bei uns in Schleswig-Holstein spielen Theodor Storm oder Emil Nolde eine andere Rolle als in Bayern. Natürlich gibt es Unterschiede und diese Besonderheiten sollten wir uns weiter leisten können. Von oben diktierte Aufgaben verhindern Kreativität und die Motivation für innovative Unterrichtsgestaltung.

Auch ich bin der Meinung: Wir brauchen ein gerechtes, vergleichbares Abitur – aber wir brauchen nicht überall in allen Fächern die gleichen Aufgaben. Eine absolute Gleichheit im Schulsystem können wir ohnehin nicht herstellen. Würden wir uns für ein Zentralabitur entscheiden, dann müssten wir uns außerdem auch auf ein einheitliches Vorgehen in Bezug auf G8 oder G9 einigen. Ich finde: Nach eineinhalb Jahren der Pandemie mit gravierenden Auswirkungen auf unsere Schulen sollten wir jetzt keine grundlegenden Systemfragen diskutieren. Auch hier hat jedes Land seine berechtigten Gründe für den jeweiligen Weg.
Wir müssen die Debatte realistisch führen. Seien wir ehrlich: Beim Zentralabitur würden wir uns zwangsläufig auf den kleinsten gemeinsamen Nenner – die niedrigste Qualität – einigen. Was wir brauchen ist eine hohe und vergleichbare Qualität für alle, egal in welchem Bundesland sie Abitur machen – in Aachen und Görlitz genau wie in München und Flensburg.

Karin Prien (56) ist Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Schleswig-Holstein. Die verheiratete Mutter von drei Kindern arbeitete viele Jahre als selbstständige Rechtsanwältin. Vor ihrer Berufung zur Landesministerin war sie Bürgerschaftsabgeordnete in Hamburg