Der Stabilitäts- und Wachstumspakt: Rückkehr zu einer nachhaltigen Fiskalpolitik

Datum des Artikels 05.07.2022
Beschluss

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist ein wesentlicher Bestandteil der wirtschaftspolitischen Steuerung in der EU. Er dient dazu, für solide öffentliche Finanzen zu sorgen und damit die Wirtschafts- und Währungsunion auf ein solides Fundament zu stellen. Die Finanz- und Staatsschuldenkrise hat gezeigt, wohin eine leichtfertige Haushaltspolitik führen kann, weshalb der Stabilitäts- und Wachstumspakt im Jahr 2011 einer grundsätzlichen Überarbeitung unterzogen wurde, im Rahmen derer insbesondere das Instrument der haushaltspolitischen Überwachung weiter gestärkt wurde.

In der Praxis hat sich jedoch gezeigt, dass auch der reformierte Stabilitäts- und Wachstumspakt die hochgesteckten Erwartungen an ihn nicht erfüllen konnte. Auf der einen Seite war der Stabilitäts- und Wachstumspakt immer wieder Auslöser heftigen Streits zwischen Mitgliedstaaten und Europäischer Kommission, auf der anderen Seite hat der Stabilitäts- und Wachstumspakt in vielen Mitgliedstaaten den Aufbau einer besorgniserregend hohen Staatsverschuldung nicht verhindern können. In vielen Mitgliedstaaten ist die Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt trotz eines positiven gesamtwirtschaftlichen Umfelds auch im Zeitraum von 2012 bis 2019 weiter gestiegen.

Im Frühjahr 2020 wurde der Stabilitäts- und Wachstumspakt durch Aktivierung der allgemeinen Ausweichklausel vorläufig ausgesetzt, um den Mitgliedstaaten die notwendige fiskalische Beinfreiheit zu geben, damit diese auf die wirtschaftlichen Verwerfungen der Covid-19-Pandemie reagieren konnten. Der fiskalische Rahmen hat damit auch in einer extremen Krisensituation seine Flexibilität unter Beweis gestellt. Im März des vergangenen Jahres hat die Europäische Kommission in einer Mitteilung   angekündigt, dass „der Beschluss über die Deaktivierung oder weitere Anwendung der allgemeinen Ausweichklausel auf einer Gesamtbewertung der Wirtschaftslage anhand quantitativer Kriterien beruhen“ sollte. Die Betrachtung der einschlägigen Indikatoren würde „nahelegen, die allgemeine Ausweichklausel 2022 weiter anzuwenden und sie ab 2023 zu deaktivieren.“

Wann sollte die allgemeine Ausweichklausel wieder deaktiviert werden?

In Ihrer jüngsten Frühjahrsprognose zur Entwicklung der Wirtschafspolitik   hat die Europäische Kommission festgestellt, dass das Bruttoinlandsprodukt der EU27 bereits Ende 2021 das Vorkrisenniveau überschritten hat. Selbst für diejenigen Mitgliedstaaten, bei denen sich die wirtschaftliche Erholung langsamer vollzieht, ist mit einer vollständigen Erholung bis Ende 2022 zu rechnen. Angesichts der insgesamt positiven wirtschaftlichen Entwicklung der Wirtschaft in der EU in den vergangenen Monaten und des zusätzlichen Konjunkturimpulses durch Next Generation EU wäre eine Deaktivierung der allgemeinen Ausweichklausel - und damit eine Rückkehr zur fiskalpolitischen Normalität - zum 1. Januar 2023 sachgerecht gewesen. Angesichts der Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine hat die Kommission eine Verschiebung um ein weiteres Jahr vorgeschlagen. Dieses Zieldatum sollte jedoch keineswegs noch weiter nach hinten geschoben werden. Das Zeitfenster bis zum 1. Januar 2024 sollte für eine Reform der fiskalischen Regeln genutzt werden, sodass 2024 ein reformierter und wirksamerer Stabilitäts- und Wachstumspakt in Kraft treten kann.

Reformbedarf beim Stabilitäts- und Wachstumspakt:

Angesichts des rapide gestiegenen Verschuldungsniveaus in der Eurozone (von 85,5% des BIP in 2019 auf 102,4% in 2021) und der EU (von 79,1% des BIP in 2019 auf 94,4% in 2021) und der strukturellen Probleme beim Stabilitäts- und Wachstumspakt sollten wir jedoch nicht einfach zum Status Quo zurückkehren. Beim Stabilitäts- und Wachstumspakt gibt es erheblichen Reformbedarf, der kurz- bis mittelfristig adressiert werden muss, in den folgenden Bereichen:

1. Verschlankung des Regelwerkes:

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist über die Jahre immer komplexer geworden. Inzwischen umfasst das offizielle Handbuch der Europäischen Kommission zur Anwendung  des Stabilitäts- und Wachstumspaktes 108 Seiten . Diese unnötige Komplexität macht den Prozess der Anwendung des Stabilitäts- und Wachstumspakt extrem intransparent und gibt der Europäischen Kommission als Hüterin des Prozesses zu viele Entscheidungsspielräume. Anstatt für jeden denkbaren Einzelfall eine Spezialregelung - oftmals eine Ausnahme - zur Hand zu haben, sollte sich der Stabilitäts- und Wachstumspakt auf einige wenige Grundprinzipien beschränken, die konsequent zur Anwendung gebracht werden. Das bedeutet auch, dass keine neuen Ausnahmetatbestände (etwa für nachhaltige Investitionen) geschaffen werden.

2. Beobachtbare und beeinflussbare Kennziffern:

Die Prozesse im Stabilitäts- und Wachstumspakt beruhen derzeit zu sehr auf Kennziffern, die entweder geschätzt werden müssen (wie die Produktionslücke oder das Potentialwachstum einer Volkswirtschaft), nicht vollständig von politischen Entscheidungsträgern beeinflusst werden können (Haushaltsdefizit in Prozent des BIP) oder häufigen Revisionen unterliegen (BIP-Wachstum). Dadurch ist die Entscheidungsfindung schwer nachvollziehbar und anfällig für Manipulationen. Um dies zu vermeiden, sollte sich der Stabilitäts- und Wachstumspakt in Zukunft auf einige wenige Kennziffern konzentrieren, die von den politischen Entscheidungsträgern in Echtzeit beobachtet und beeinflusst werden. Die Schwellenwerte für die Staatsverschuldung von maximal 60% und das Defizit von maximal 3% ergeben sich aus den europäischen Verträgen und sollten im Grundsatz beibehalten werden. Nichtsdestoweniger sollte der Rahmen rund um diese Kennziffern anders operationalisiert werden.
In Anlehnung der Vorschläge des Europäischen Fiskalausschusses   sollten wir daher zu einem System übergehen, das sich auf das Ausgabenwachstum konzentriert. Ein gangbarer Mechanismus könnte etwa so aussehen: Sofern ein Mitgliedstaat eine Staatsverschuldung von 60% des BIP überschreitet, darf das absolute Ausgabenwachstum den Mittelwert des BIP-Wachstums der vergangenen drei Jahre abzüglich eines Sicherheitsfaktors von einem Prozentpunkt nicht überschreiten. Wäre die Volkswirtschaft eines Mitgliedstaates in den vergangenen drei Jahren im Schnitt um zwei Prozent gewachsen, läge die Obergrenze des Ausgabenwachstums bei einem Prozent. Damit wäre sichergestellt, dass ein Mitgliedstaat langfristig aus seinen Schulden herauswächst. Ein solcher Mechanismus hätte auch eine wünschenswerte antizyklische Wirkung, da im Falle eines plötzlichen Konjunktureinbruchs die Berechnung auf dem vorherigen Dreijahreszeitraum basieren würde. Der Abschwung würde sich erst im darauffolgenden Jahr in niedrigerem Ausgabenwachstum widerspiegeln, was einen stabilisierenden Effekt hätte.

3. Effektive Kontrolle durch unabhängige Institutionen:

Die Europäische Kommission hat bei der Kontrolle des Stabilitäts- und Wachstumspaktes versagt. Obwohl es in den vergangenen Jahren hunderte Verstöße gegen die einschlägigen Schwellenwerte gab, hat sich die Kommission nie zu Sanktionen durchringen können. Die Kommission konnte allein schon dadurch nicht ihrer Aufgabe gerecht werden, weil sie sich als politische Kommission statt als unabhängigen Schiedsrichter gesehen hat. Entsprechend darf eine etwaige Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nicht bei der Anpassung des Regelwerks stehen bleiben. Es muss auch darum gehen, sicherzustellen, dass das Regelwerk effektiv überwacht wird. In den vergangenen Jahren hat das European Fiscal Board eine beachtliche Expertise in fiskalpolitischen Fragen aufgebaut. Diese Expertise sollte auch für die haushaltspolitische Überwachung herangezogen werden. Entsprechend sollte die Aufgabe der haushaltspolitischen Überwachung an eine gestärkte und politisch unabhängige Institution übertragen werden.

4. Präventiven Arm stärken:

Prävention ist einfacher als Krisenmanagement. In diesem Sinne sollte die Koordinierung der europäischen Wirtschaftspolitik darauf hinwirken, dass haushaltspolitische Schieflagen erst gar nicht entstehen. Das richtige Instrument dafür ist das Europäische Semester zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik. In seiner jetzigen Form krankt das Europäische Semester jedoch an zwei Problemen: zum einen ist es unverbindlich und wird von den Mitgliedstaaten auch so behandelt. Zum anderen hat das Europäische Semester seinen Fokus verloren. Inzwischen will die Europäische Kommission das Semester als zentrales Instrument zur Umsetzung der UN-Entwicklungsziele nutzen, was im Ergebnis dazu führen dürfte, dass Strukturreformen und eine stabile Haushaltspolitik nur noch ein Thema unter vielen sein dürften. Den Mitgliedstaaten wird das Rosinenpicken aus den länderspezifischen Empfehlungen dabei leichter gemacht als je zuvor.

Um die Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz der europäischen Wirtschaft zu stärken und künftige Krisen zu vermeiden, muss daher auch das Europäische Semester reformiert werden. Anstatt jedes Jahr einen Blumenstrauß an Empfehlungen vorzuschlagen, sollte die Europäische Kommission die länderspezifischen Empfehlungen daher auf einige wenige zentrale und dabei verbindlichere Reformvorschläge beschränken, die für den Abbau struktureller makroökonomischer Ungleichgewichte unabdingbar sind. Nur ein schlankes und fokussiertes Semester wird am Ende ein effektives Instrument zur Krisenprävention sein.

Zusammenfassung: Stabi-Pakt reformieren um Währungsstabilität zu sichern:

Die Stabilität der gemeinsamen Währung hängt an einer verantwortungsvollen Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten. Während der Krise von der allgemeinen Ausweichklausel Gebrauch zu machen, war richtig. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt darf aber nicht bis zum Sankt Nimmerleinstag ausgesetzt bleiben, sondern sollte spätestens 2024 wieder greifen. Einige der Bestimmungen haben sich jedoch in der Vergangenheit als dysfunktional erwiesen. Deswegen sollte der Stabilitäts- und Wachstumspakt verschlankt und auf besser beobachtbare und beeinflussbare Variablen fokussiert werden. Um eine effektive haushaltspolitische Überwachung sicherzustellen, sollte diese von der Kommission auf eine politisch unabhängige Institution übergehen. Der Aspekt der Krisenprävention sollte gestärkt werden.