Deutschlands einsamer Kampf gegen die Kernkraft

Datum des Artikels 04.05.2022
MittelstandsMagazin

Zum Jahresende 2022 ist Schluss mit der Kernkrafterzeugung in Deutschland. Oder doch nicht? In der Energiekrise fordern zahlreiche Experten, Ökonomen und Politiker einen Weiterbetrieb der Meiler.

Der Ukraine-Krieg und die Energiekrise haben manche Gewissheit der Vergangenheit zerstört. Viele europäische Staaten diskutieren angesichts der galoppierenden Preise wieder über eine Rückkehr zur Kernkraft – und schaffen Fakten. Belgien entschied im März, den Atomausstieg um zehn Jahre zu verschieben. Die britische Regierung will gleich acht neue Reaktoren bauen. In Frankreich, wo 57 Kernkraftwerke mehr als 70 Prozent des französischen Stroms produzieren, plant Präsident Macron den Neubau mehrerer moderner Mini-Kraftwerke. Die Niederlande kehrten bereits im vergangenen Jahr zur Kernkraft zurück. Als Grund gab Ministerpräsident Rutte den Klimawandel und die Versorgungssicherheit an.

Kernkraft ist klimafreundlich

Der Weg dafür wurde in der EU schon länger bereitet. Noch vor dem Ukraine-Krieg entschied die EU, Investitionen in neue Gas- und Kernkraftwerke als klimafreundlich einzustufen. Doch Deutschland hält unverändert an seinem Kurs fest. Trotz Energiekrise sollen die letzten drei deutschen Meiler spätestens in der kalten Silvesternacht vom Netz gehen. Diese versorgen immerhin zehn Millionen Haushalte zuverlässig mit Strom. Damit nicht genug, will Deutschland bis 2030 auch aus der Kohle aussteigen. Dabei haben der Krieg in der Ukraine und die stark gestiegenen Gaspreise gezeigt, wie abhängig Europa von fossilen Brennstoffen ist – besonders von Russland, das rund 40 Prozent des Gases in der EU liefert und rund 55 Prozent in Deutschland. Und die Gasimporte von dort sollen auf dem Weg zu mehr Unabhängigkeit schließlich auch reduziert werden.

Mehrheit für Weiternutzung

In der Union drängen deshalb viele darauf, den Ausstieg zu überdenken. So sagte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), ein längerer Betrieb der Kernkraftwerke könne für einen begrenzten Zeitraum „sehr helfen“. Man brauche den Atomstrom „als Brücke“. Die Position der CDU macht Generalsekretär Mario Czaja im Interview mit dem Mittelstandsmagazin deutlich (siehe Seiten 21/22): „Wir wollen, dass ideologiefrei alle möglichen Maßnahmen zur Sicherung unserer Energieversorgung geprüft werden“, sagt er. Dazu gehöre auch „die temporäre Verlängerung der Laufzeiten“ der bestehenden Kraftwerke. „Wir können uns das vorstellen.“ Das sieht auch eine Mehrheit im Land so. In einer Umfrage des ZDF-Politbarometers befürworteten im März 57 Prozent der befragten Bürger eine längere Laufzeit. 41 Prozent sprachen sich dagegen aus. Laut einer Befragung des Insa-Instituts waren im April 61 Prozent der Ansicht, dass – sofern technisch machbar – die verbleibenden drei Meiler weiterbetrieben werden sollten. Viele Verbraucher haben dabei offenbar nicht nur die Versorgungssicherheit, sondern auch die Bezahlbarkeit im Blick. Schon heute weist Deutschland die höchsten Strompreise der Welt auf.

Ampel blockiert

Doch an einer ideologiefreien Debatte darüber scheint die Bundesregierung kein Interesse zu haben. Nach einer kurzen internen Prüfung teilten das Wirtschafts- und das Umweltministerium im März mit: „Eine Verlängerung der Laufzeiten könnte nur einen sehr begrenzten Beitrag zur Lösung des Problems leisten und dies zu sehr hohen wirtschaftlichen Kosten.“ Ein Wiederanfahren bereits stillgelegter Kernkraftwerke komme aufgrund der erloschenen Betriebserlaubnis nicht in Betracht. Die Gegenargumente gelten unter Kernenergieexperten jedoch als weitgehend widerlegt. „Nach unseren Rückmeldungen aus der Branche und von Experten wäre es sehr wohl möglich, die Kernkraftwerke noch fünf bis zehn Jahre weiter zu nutzen – sowohl technisch als auch rechtlich“, sagt die MIT-Vorsitzende Gitta Connemann. In einem Vorstandsbeschluss nimmt die MIT den Prüfvermerk der Regierung regelrecht auseinander: „Die Anlagen, das Personal, das Know-how, die Lieferketten – all das ist noch vorhanden. In der gegenwärtigen Energiekrise ist die Kernkraft schlichtweg unverzichtbar, wenn wir nicht in eine energiewirtschaftliche Notlage geraten wollen.“

„Rein politische Entscheidung“

Das bestätigt die Technikhistorikerin und Kernkraftexpertin Anna Veronika Wendland. Aus ihrer Sicht könnten nicht nur die aktiven, sondern auch die Ende 2021 abgeschalteten Meiler wieder ans Netz gehen. „Es ist ein verbreiteter Irrtum, dass diese Kraftwerke keine Betriebsgenehmigung mehr hätten“, sagte sie der „Welt“. „Ausgelaufen sind allein die Genehmigungen zum kommerziellen Leistungsbetrieb.“ Falsch sei auch die Behauptung der Bundesregierung, es gäbe für eine Wiederinbetriebnahme unüberwindbare rechtliche und sicherheitstechnische Hindernisse. „Die Betriebsgenehmigung erlischt erst, wenn die Rückbaugenehmigung erteilt ist. Damit wird für die drei stillgelegten Kraftwerke Ende 2022 gerechnet“, so die Wissenschaftlerin. Es sei also noch Zeit, andere politische Entscheidungen herbeizuführen. Für eine Laufzeitverlängerung bedürfe es nur eines Bundestagsbeschlusses zur Änderung des Atomgesetzes. Wendland: „Das ist eine rein politische Entscheidung.“

MIT macht Druck

Die MIT hat sich deshalb klar für einen Weiterbetrieb der drei aktiven und der drei abgeschalteten Kernkraftwerke ausgesprochen. Mit ihnen könnten mehr als zwei Drittel der Verstromung durch Gas substituiert und die Erdgas- Importabhängigkeit von Russland maßgeblich reduziert werden, führt die MIT in ihrem Beschluss an. Weiterhin setzt sich die MIT für eine weitere Erforschung der nuklearen Entsorgung ein, etwa durch moderne Dual-Fluid-Reaktoren. MIT-Chefin Connemann macht deshalb Druck: „Im Frühsommer ist der Point-of-no-return. Wenn wir bis dahin nicht die politischen Weichen gestellt haben, ist diese Möglichkeit der sicheren, klimafreundlichen und günstigen Energieversorgung in Deutschland für immer abgeschnitten, und das wäre verantwortungslos.“

Dieser Artikel erschien im Mittelstandsmagazin, Ausgabe 2-22.