"Die machen eh, was sie wollen" - Wenn das Volk sich von den Volksvertretern entfernt

Datum des Artikels 26.01.2017
MittelstandsMagazin

​Es stimmt etwas nicht in diesem Land. Bürger wenden sich von der Politik ab oder wählen eine angebliche „Alternative“, der sie aber keine Lösungen zutrauen. Darüber sind viele kluge Leitartikel geschrieben und nachdenkliche Reden gehalten worden – von Publizisten wie Politologen.

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Carsten Linnemanns selbstkritische Bestandsaufnahme / Von Hugo Müller-Vogg

Jetzt stimmt Carsten Linnemann mit dem Buch „Die machen eh, was sie wollen“ in diesen Chor ein. Das ist das Besondere: Ein Angehöriger der politischen Klasse beschreibt ganz nüchtern, wie er selber die Entfremdung der Volksvertreter vom Volk erlebt und spart auch nicht mit Selbstkritik am politischen Betrieb. Dabei kommt dem 39-Jährigen, zwei Mal direkt gewählten Abgeordneten aus Paderborn zugute, dass er selbst „dem Volk aufs Maul schaut“: Einmal im Monat macht er Hausbesuche und zudem empfängt er jährlich 1000 Besucher aus seinem Wahlkreis in Berlin.

Linnemanns Befund über die wachsende Distanz der Wähler zu den Gewählten gewinnt an Gewicht, weil er die Klagen frustrierter Bürger in vielen Zitaten einfließen lässt: das Unverständnis über eine geringe Rente nach einem langen Arbeitsleben, die Angst vor wachsender Kriminalität, die Sorge, durch den unkontrollierten Zustrom von Flüchtlingen und illegalen Zuwanderern werde sich das Land zu seinem Nachteil verändern. Es ist, alles in allem, ein beunruhigendes Bild – aber leider ein realistisches. Linnemanns nüchterne Prognose: Wenn sich nichts ändere, werde die Parteienlandschaft in Zukunft nur noch aus 10- und 20-Prozent-Parteien bestehen – ohne echte Volksparteien.

Der Bundesvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU belässt es nicht beim Beschreiben. Er bietet auch Lösungen an; keinen grandiosen Masterplan, sondern kleine, pragmatische Schritte. Seine zwei Grundlinien: Die Parteien müssen wieder unterscheidbar werden, und das Land braucht konkrete Zukunftsprojekte. Zu letzteren zählen: Melde- und Transitzonen, solange die EU-Außengrenzen nicht vollständig gesichert sind; die größte Steuer- und Bürokratieentlastung seit der Wiedervereinigung; Deutschlands Etablierung als Weltmarktführer beim autonomen Fahren und als digitales Gründerland schlechthin.

Mit seinen Vorschlägen zu Veränderungen bei der CDU setzt sich Linnemann deutlich vom aktuellen Kurs seiner Partei ab, wenn auch in verklausulierter Form. Die Bürger wüssten, dass es immer eine Alternative gebe, und es reiche nicht, eine Person ins Zentrum zu stellen. Mit anderen Worten: Die eigene Politik allein auf Angela Merkel abzustellen und deren Politik als „alternativlos“ darzustellen, ist falsch.

Linnemann plädiert unter anderem für eine „Wiedererfindung der Sozialen Marktwirtschaft“, für die Wiedereinführung des Prinzips „Haftung“ beim Euro, für eine Flüchtlingspolitik, die konsequent zwischen echten Flüchtlingen und illegalen Einwanderern unterscheidet. Den Versuch, ein komplettes Wahl- oder Regierungsprogramm zu liefern, unternimmt Linnemann erst gar nicht. Aber seine Botschaft an die Wutbürger und Wutwähler ist glaubwürdig: „Wir haben verstanden.“ Was in der CDU-Führung nicht alle so verstehen dürften.

 

Carsten Linnemann
Die machen eh, was sie wollen:
Wut, Frust, Unbehagen – Politik muss besser werden

Verlag Herder, Freiburg 2017
geb., 168 Seiten, 16,99 Euro
ISBN 978-3-451-37736-5

​Die Rezension von Hugo Müller-Vogg erscheint Ende Februar in der Ausgabe 1/2017 des Mittelstandsmagazins der MIT.