
"Die Grundrente kommt“ – dieser Satz wurde in den letzten Monaten von vielen Politikern, vor allem aus der SPD, gesagt und in vielen Medien gedruckt. Nach langem Streit innerhalb der Großen Koalition wird der Satz immer richtiger. Das Kanzleramt will die Grundrente zügig durch den Bundestag bringen, die Kanzlerin bekräftigte ihre Unterstützung für das Projekt. Beim Empfang zum 70-jährigen Bestehen des Sozialverbands VDK Ende Januar erklärte sie: „Das Thema Grundrente biegt gerade in die Schlusskurve ein.“ Zwar gebe es noch Diskussionsbedarf, aber „jetzt schaffen wir die letzten Meter auch noch“, so die Kanzlerin. Diese letzten Meter sind allerdings mit Hürden gespickt. Die Zeit drängt, denn die Grundrente soll ab dem 1. Januar 2021 ausgezahlt werden. Deswegen wurden Gesundheitsminister Jens Spahn und Arbeitsminister Hubertus Heil damit beauftragt, die letzten strittigen Punkte auszubügeln. Doch auch der erarbeitete Kompromiss ist nicht geeignet, die Kritiker zu beschwichtigen.
Rente in postindustriellen Zeiten
So äußerte beispielsweise die Deutsche Rentenversicherung (DRV) deutliche Kritik an dem Gesetzentwurf. Für Hubertus Heil dürfte dies unangenehmer sein als jede Kritik aus den Reihen der Union, denn die DRV wird letztendlich umsetzenmüssen, was Heil und seine Beamten erarbeitet haben. Doch die 16-seitige Stellungnahme der DRV lässt kaum ein gutes Haar an dem Gesetzentwurf. Schon in der Vorbemerkung heißt es, dass die „sozialpolitische Begründung der vorgesehenen Regelungen zum Teil widersprüchlich und in der Zielstellung nicht eindeutig ist.“
Die Notwendigkeit der Grundrente wird im Gesetzentwurf unter anderem damit begründet, dass Erwerbsbiographien in „postindustriellen“ Zeiten unsteter werden, was beispielsweise mit häufigeren Wechseln zwischen Selbstständigkeit und abhängiger Beschäftigung einhergeht. Doch genau dieses Problem wird nach Einschätzung der DRV durch die Grundrente nicht gelöst: „Die Deutsche Rentenversicherung weist darauf hin, dass die Grundrente an lange Pflichtversicherungszeiten gebunden ist, weshalb Versicherte mit häufigeren Wechseln zwischen nicht versicherungspflichtiger Selbstständigkeit und versicherungspflichtiger Beschäftigung die geplante Grundrente tendenziell gerade nicht in Anspruch nehmen können“, heißt es in der Stellungnahme.
Gewichtiger als die mangelnde Zielgenauigkeit der Grundrente dürften allerdings verfassungsrechtliche Schwierigkeiten sein. Für Jana Schimke, stellvertretende MIT-Vorsitzende und CDU-Bundestagsabgeordnete, sind diese Fragen noch nicht geklärt: „Die MIT hat immer darauf hingewiesen, dass das Vorhaben verfassungsrechtlich bedenkliche Bestandteile enthält. Diese liegen trotz des Kompromisses weiterhin bei der Ungleichbehandlung von Ehepaaren und nicht-ehelichen Gemeinschaften.“ Die Grundrente sollen nur diejenigen bekommen, deren Einkommen und die Einkommen der Partner nicht zu hoch sind. Der Gesetzentwurf sieht dabei nur die Prüfung der Einkommen von Ehepartnern und eingetragenen Lebenspartnern vor. Wenn die Partner unverheiratet zusammen leben, hat das Partnereinkommen keine Auswirkung auf die Grundrente. Damit würden viele Ehepartner bei der Grundrente schlechter behandelt als nicht verheiratete Paare. Die DRV befürchtet damit einen Verstoß gegen Artikel 3 oder 6 des Grundgesetzes: „Diesbezüglich können sich Eheleute […] aufmehrere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts berufen, mit denen eine Benachteiligung der Ehe im Verhältnis zu nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften beanstandet wurde“, schreibt die DRV.
Einkommensprüfung statt Bedürftigkeitsprüfung
Bislang ist unklar, wie viele Rentner überhaupt von der Grundrente profitieren werden. Ursprünglich wollte die SPD drei Millionen Menschen erreichen, ist mittlerweile aber von dieser Zahl abgerückt. Im Gesetzentwurf ist von 1,4 Millionen Empfängern die Rede. „Dies sind allerdings nur Schätzungen“, stellt Jana Schimke klar. Beim Streit um die Grundrente ging es zwischen Union und SPD nicht um das Ob, sondern um das Wie. MIT-Chef Carsten Linnemann, der die Grundrente bei den Koalitionsgesprächen mit der früheren Arbeitsministerin Andrea Nahles verhandelt hatte, befürwortet die Grundidee auch heute noch: „Wir haben uns auch als MIT dafür eingesetzt, dass diejenigen, die viele Jahre in die Rente eingezahlt haben und trotzdem unter Grundsicherungsniveau landen, mehr bekommen sollen als diejenigen, die nicht oder wenig gearbeitet haben.“ Damit die Grundrente bei denen ankommt, die sie brauchen und einen Anspruch darauf haben, wurde eine Bedürftigkeitsprüfung im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Diese sollte nach den Plänen der Union die gesamten Vermögensverhältnisse umfassen. Dies wollte die SPD im Nachhinein aber nicht mehr mitmachen. Heil legte einen Gesetzentwurf vor, der ohne jede Einkommens- und Vermögensprüfung auskam und wich damit vom Koalitionsvertrag ab. Nach langen Verhandlungen erklärte die Kanzlerin, die von der Union gewollte und im Koalitionsvertrag mit der SPD vereinbarte umfassende Bedürftigkeitsprüfung sei „nicht administrierbar“. Sowurde aus der Bedürftigkeitsprüfung eine reine Einkommensprüfung. Doch auch bei der Einkommensprüfung ist längst nicht klar, ob sie so funktioniert. Der dafür notwendige Datenaustausch zwischen Rentenversicherung und Finanzbehörden der Länder ist Neuland. Laut der DRV gibt es bislang kein vergleichbares Verfahren, auf das aufgebaut werden kann. „Es muss sichergestellt werden, dass die erste Grundrente erst dann ausbezahlt ist, wenn das vollautomatisierte Datenaustauschverfahren mit der Finanzverwaltung funktioniert“, so die DRV. Die Programmierung könne erst nach Verabschiedung des Gesetzentwurfs im Bundeskabinett und Klärung von komplizierten Auslegungsfragen starten. Das ist frühestens Mitte März der Fall. Ab da braucht die Rentenversicherung nach Insiderinformationen mindestens 350 Arbeitstage. Eine Auszahlung zum 1. Januar 2021 wäre damit ausgeschlossen.
Bürokratisches Monstrum
Überhaupt wäre die Einführung der Grundrente mit einemerheblichen Aufwand für die DRV verbunden. Natürlich sollen auch jene von der Grundrente profitieren, die bereits Rente beziehen. Für die DRV bedeutet das, dass aus 26 Millionen Renten diejenigen herausgesucht werden müssen, die einen Anspruch auf die Grundrente haben. „Im Ergebnis ist damit jeder einzelne Monat, der den nahezu 26 Millionen Renten zugrundliegenden Versicherungsbiographien zu betrachten.“ In ihrer Stellungnahme geht die DRV von einem Mehrbedarf von „mehreren tausend Stellen“ aus – allein für die Einkommensprüfung. „Aktuelle Stellenbesetzungsverfahren zeigen, dass eine Personalgewinnung kurzfristig nicht möglich ist. Von daher müsste das Inkrafttreten des Gesetzes entsprechend verschoben werden“, schreibt die DRV. Der Nationale Normenkontrollrat (NKR) ist damit beauftragt, die durch Gesetze entstehenden Kosten zu prüfen und Einsparpotentiale aufzuzeigen. Er rechnet im ersten Jahr der Grundrente mit über 4.000 benötigten Stellen. In einer Stellungnahme an alle Ministerien, die dem Mittelstandsmagazin vorliegt, schreibt der NKR: „Die Grundrente wird insbesondere im Jahr der Einführung erheblichen zusätzlichen Erfüllungsaufwand […] vor allem bei der Deutschen Rentenversicherung auslösen.“ Außerdem kritisiert der NKR, dass Erfahrungen von Praktikern bei der Ausarbeitung der Grundrente nicht früher in Anspruch genommen wurden. Das sei das „Gegenteil besserer Rechtssetzung“. Das Fazit des sonst sehr zurückhaltenden NKR: „Das Ziel der Schaffung einesmöglichst unbürokratischen Verfahrens für Versicherte und die Deutsche Rentenversicherung wird aus Sicht des Normenkontrollrats verfehlt.“
Auch von verschiedenenWirtschaftsverbänden kommt Kritik, allen voran von der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA), die auch im Vorstand der Rentenversicherung sitzt. BDA-Hauptgeschäftsführer und MIT-Mitglied Steffen Kampeter, der früher CDU-Staatssekretär im Bundesfinanzministerium war, lässt an dem Kompromiss kein gutes Haar: „Die Koalitionseinigung klammert die wichtigen Streitpunkte weiterhin aus.“ Aus Sicht der Arbeitgeber blieben entscheidende Fragen ungeklärt, wodurch eine seriöse Kostenschätzung nicht möglich sei. „Der teure Kompromiss lindert vielleicht kurzfristig eine verfahrene Situation innerhalb der Koalition, aber sie sorgt sicher nicht für mehr Gerechtigkeit“, so Kampeter. Auch der MIT-Bundesvorstand lehnt den Kompromiss in einem einstimmigen Beschluss ab, „weil sie ungerecht, teuer, verfassungswidrig und nicht administrierbar ist.“ Sie widerspreche in wesentlichen Punkten den Vorgaben, die die Koalition im November vereinbart und die der CDU-Parteitag im November bestätigt habe, heißt es im Vorstandsbeschluss.
Ungeklärte Finanzierung
Besonders kritisch wird in der Union gesehen, dass die Finanzierung nicht geklärt ist. Die Ausgaben für die Grundrente werden vom Arbeitsministerium auf 1,4 Milliarden Euro geschätzt. Bis 2025 sollen sie auf 1,7 Milliarden Euro steigen. Hinzu kommen einmalige Verwaltungskosten von 400 Millionen Euro und laufende Verwaltungskosten von rund 200 Millionen Euro jährlich. „Wie so oft wissen wir aber erst nach der Einführung, welche Kosten tatsächlich entstehen“, sagt Jana Schimke. Und selbst wenn die Schät zungen richtig sind, ist bislang unklar, wie die Kosten gegenfinanziert werden. Bundesfinanzminister Olaf Scholz wollte dies über eine Finanztransaktionssteuer lösen. In der Koalition war aber vereinbart, dass diese nur kommen soll, wenn sie in mindestens neun EU-Staaten gleichzeitig eingeführt wird. Dafür ist jedoch keine politische Mehrheit innerhalb der EU absehbar.
CDU und CSU lehnen einen nationalen Alleingang Deutschlands in dieser Frage ab – ebenso wie die Finanzierung aus Beitragsmitteln. „Wir geben mit den bereits vorher beschlossenen Maßnahmen bis 2025 etwa 125 Milliarden Euromehr für unser Rentensystem aus“, sagt Schimke. Durch die Grundrente würde es dann noch mehr. „Eine Grundrente soll nur kommen, wenn die Finanzierung über eine Finanztransaktionssteuer im europäischen Kontext gesichert ist. Eine anderweitige Finanzierung aus eventuellen Überschüssen aus dem Bundeshaushalt oder durch einen höheren Bundeszuschuss in die Rentenversicherung ist nicht nachhaltig oder generationengerecht“, stellt Schimke klar.
Das wichtigste Argument der Befürworter in der Union hat allerdings gar nichts mit der Grundrente zu tun: Sie fürchten, dass mit einer Ablehnung des Kompromisses durch die Union die SPD zu einem Ausstieg aus der Großen Koalition provoziert werden könnte. Aus der Sachfrage wird also eine Machtfrage. Ende offen!
Dieser Artikel erschien im Mittelstandsmagazin (Ausgabe 1-2020)
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