Die selbstarretierende Gesellschaft

Datum des Artikels 03.02.2023
MittelstandsMagazin

Ulf Poschardt (55) ist Chefredakteur der WELT-Gruppe und Sprecher der Geschäftsführung der WeltN24 GmbH. Zuvor war er u. a. Chefredakteur des Magazins der Süddeutschen Zeitung sowie Chefredakteur der deutschen Ausgabe der Vanity Fair.

Es sagt viel über unsere Zeit und unser Land aus, wenn in bestimmten Milieus die Aktivisten der „Letzten Generation“ die Helden der Gegenwart sind. Also Blockierer und Selbstankleber, im wörtlichen und übertragenen Sinne. Waren linke Utopien bis in das 20. Jahrhundert noch mit einem Fortschritts- und Beschleunigungsglauben verbunden, erscheinen Stillstand und Entschleunigung heute als das neue Maß linken Denkens.

Was sich da Bahn bricht, ist die Sehnsucht nach einer bequemen, da ökonomisch bestens abgesicherten Bürgerlichkeit, die es gerne ein wenig ruhiger hätte. Geträumt vom besseren, weil langsameren Leben wird, wie unschwer im Zentrum der Hauptstadt zu bewundern ist, in stillgelegten Straßen mit Sperrholzmöbeln und kaum genutzten Fahrradwegen. In nostalgischen Kiezen wird sich einer romantisch verbrämten Degrowth-Fantasie hingegeben, die sich aber auch nur leisten kann, wer schon hat. Künstler und Intellektuelle haben kapituliert, machen mit oder halten die Klappe.
Neu in diesem Ideal sind die Claqueure, die den Beamt:innen (sic!) hinter dem Schalter applaudieren. Das hat auch mit einer Kultur zu tun, die weitgehend mit Steuergeldfinanziert wird (und der man das ohne Heiner Müller und Christoph Schlingensief auch in jeder Sekunde anhört und ansieht). Und mit Medien, die öffentlich-rechtlich finanziert sind (und denen man das auch in der Regel anhört oder ansieht).

Mit Gehorsam, Beichte und Buße ist die vorherrschende Kultur so sehr auf die Machtabsicherungsinstanz des Staates fixiert, dass freiheitliche Gedanken nur als Häresie auftauchen oder als zu eliminierendes Störgeräusch. Immer schambefreiter werden FDP-Wähler und liberale Unionisten in den Bereich des Verfassungskritischen geschubst.
schubst.

Die Gegenwehr in den sozialen Netzwerken und auf den Straßen hat oft genug einen verzweifelten Ausdruck des Verbitterten und Hoffnungsfreien. Es mangelt an Kraftzentren, die auch Widerspruch so substanziell artikulieren können, dass er breiter als in den eigenen, oft verbitterten Blasen verfängt. Zudem fehlt der liberalen und bürgerlichen Welt oft das Selbstbewusstsein. Die Anständigen haben davon mehr, als es angemessen erscheint.
In Sachen Eskalation hat die „Letzte

Generation“, bei der es sich offensichtlich um die allerletzte Generation handelt, jetzt wieder eine Schippedraufgelegt. In einem Video lässt sie einen gedoubelten Christian Lindner von der Polizei abführen: „Denn die gefährliche Blockadehaltung der FDP im Klimaschutz ist ein Verbrechen an all denen, die ihr Leben bereits verlieren und noch verlieren werden.“
Was, die Protestierer werden es nicht hören wollen, die „Letzte Generation“ mit den Rändern der politischen Landschaft verbindet: Bei Pegida-Demos wurde für Merkel der Galgen mitgebracht, bei Trump hieß es „Lock her
up“, und bei der LG feiert man nun das Bild, wie Lindner abgeführt wird. Man stelle sich vor, in der Sächsischen Schweiz würde jemand inszenieren, wie Annalena Baerbock abgeführt wird.

Wer aber davon träumt, Politiker demokratischer Parteien abführen zu lassen, gehört nicht zu den Anständigen, sondern steht in der düstersten deutschen Tradition. Helmut Kohl hat das schön gesagt: „Jeder von uns bleibt aufgefordert, (...) jeglicher Form von Fanatismus entgegenzutreten."