Dringender Handlungsbedarf zur künftigen Gewährleistung der Versorgungssicherheit

Datum des Artikels 17.11.2021
Beschluss

Mit der vom Bundestag am 24. Juni 2021 beschlossenen Novelle zum Klimaschutzgesetz werden für die Energiewirtschaft die zu erreichenden CO²-Emissionsziele von 280 Mio. Tonnen in 2020 nochmals auf 108 Mio. Tonnen im Jahr 2030 abgesenkt, von 2031 bis 2040 um mindestens weitere 88 %.

Die gesetzlichen Zielvorgaben führen zu frühzeitigeren Stilllegungen von bisher Dunkelflauten abdeckenden Stein- und Braunkohlekraftwerken, ohne dass derzeit dafür absehbar ein Ersatz dieser Kapazitäten an gesicherter Leistung gegeben ist. Dies führt zu einer Gefährdung der Versorgungssicherheit in der Stromversorgung. Aufgrund der zentralen Bedeutung der Versorgungssicherheit für den Wirtschaftsstandort Deutschland und angesichts der langen Planungs-, Genehmigungs- und Errichtungszeiten von Stromerzeugungs- und Speicheranlagen besteht dringender Handlungsbedarf.

Die MIT fordert daher die Bundesregierung auf:

1. Die Forderungen der MIT aus dem am 8. Mai 2020 beschlossenen Antrag zur Gewährleistung der künftigen Versorgungssicherheit kurzfristig durch entsprechende Anpassung des Energiewirtschaftsgesetzes umzusetzen und die Verantwortung über die Versorgungssicherheit aller am Markt gehandelten witterungsbedingten volatilen Strommengen auf den jeweiligen Stromlieferanten zu übertragen.

2. Kurzfristig ein neues Monitoring zur Versorgungssicherheit im Bereich der leitungsgebundenen Versorgung mit Elektrizität gemäß § 51 EnWG unter Einbeziehung der Auswirkungen der Novelle zum Klimaschutzgesetz und neuer, fundierter realistischer Strombedarfs-, Jahreshöchstlast- und Residuallastprognosen in Szenarien für einen Zeitraum von 20 Jahren zu erstellen.

3. Die Ergänzung des Monitorings der Versorgungssicherheit um weitere Bewertungskriterien zur besseren Bewertung der Versorgungsqualität, insbesondere hinsichtlich von Versorgungsunterbrechungen im Millisekundenbereich. Sinnvoll wären aus unserer Sicht Kriterien wie Frequenzstabilität, Adäquanz gesicherter Leistung, Adäquanz der Übertragungs-/Verteilleistung und Spannungsqualität.

Begründung:
Die jederzeit sichere Stromversorgung ist das Rückgrat der deutschen Wirtschaft und für ein Land wie Deutschland mit starker industrieller Basis unverzichtbar. Strom muss rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr sicher und zuverlässig mit hoher Qualität zur Verfügung stehen.

Die Stromnachfrage zu jedem Zeitpunkt ausschließlich direkt durch erneuerbare Energien allein abzudecken, ist nicht möglich, weil diese weitgehend witterungsabhängig sind und Strom nur entsprechend dem Dargebot bereitstellen können.

Für die Zeit, in der die Sonne nicht scheint oder der Wind nicht weht, müssen als Reserve andere Stromerzeugungskapazitäten bzw. Speicher und andere Flexibilitäten zur Verfügung stehen. Diese kommen hauptsächlich in den Dunkelflauten zum Einsatz, in denen nahezu kein Wind weht und keine Sonne scheint. Und derer gibt es viele, wie die vergangenen Jahre gezeigt haben.

Besonders angespannt ist die Situation, wenn Dunkelflauten mit Spitzenlastzeiten zusammentreffen, in denen  alles an Kraftwerks- bzw. Speicherleistung gleichzeitig zur Sicherstellung der Stromversorgung benötigt wird. So betrug zur Deckung des Strombedarfs zu Zeiten einer Dunkelflaute  am 22. Januar 2019 um 17 Uhr  die Kraftwerksleistung rd. 81,4 GW.

Mit zunehmender Elektrifizierung des Verkehrs und der Gebäudebeheizung wird sich dies noch verstärken. Durch Wirtschaftswachstum und fortschreitende Elektrifizierung im Verkehrs- und Gebäudeheizungsbereich wird nach in den DENA-Studien aufgemachten Szenarien die durch Kraftwerks- und Speicherkapazitäten abzusichernde Jahreshöchstlast auf bis 123 GW im Jahre 2030 und 160 GW im Jahre 2050 ansteigen.

Bisher wurde die Jahreshöchstlast durch regelbare Kraftwerke - Kernkraft, Stein- und Braunkohle sowie Erdgas - erbracht. Laut Bericht der deutschen Übertragungsnetzbetreiber zur Leistungsbilanz vom 18. Februar 2020 standen 2020 folgende Nettoengpass-Kraftwerksleistungen einschließlich Netz- und Kapazitätsreserve zur Verfügung:

Braunkohle       20,3  GW
Kernenergie       8,1  GW
Steinkohle        22,3  GW
Erdgas              27,0 GW
Biomasse            7,6 GW
Wasserkraft      14,4 GW
Sonstige             7,9 GW 
                      -------------
                       107,6 GW

Zur Deckung der Spitzenlast verbleiben nach dem Bericht nach Abzug von Revisionen, erforderlichen Reserven für Systemdienstleistungen und nicht einsetzbarer Leistungen (Nichtverfügbarkeit) 84 GW.

Neben Biogas- und Wasserkraftwerken tragen des Weiteren geringe Leistungsanteile der Windkraftwerke gesichert zur Spitzenlastdeckung bei. Derzeit strittig ist, in welchem Maße im Rahmen des europäischen Verbundes ausländische Kraftwerke bei möglicher hoher Gleichzeitigkeit der Spitzenlasten zur Deckung der deutschen Lücke beitragen können. Zwar ist eine europäische Betrachtung auch in puncto gesicherte Leistung der bessere Weg. Aber in keinem Fall ist davon auszugehen, dass die durch die bis zum Jahre 2038 erfolgende sukzessive Stilllegung von Kernkraft- und Kohlekraftwerken die infolgedessen auftretende Lücke von 50,7 GW geschlossen durch unsere europäischen Nachbarn gedeckt werden kann. Zumal auch für die europäischen Systemverbundpartner in den kommenden Jahren  anstehen wird, für den Klimaschutz Kohlekraftwerke stillzulegen. Hinzu kommen noch Engpässe im Stromnetz und fehlende Interkonnektoren.

Die Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung hat in ihrem Abschlussbericht für 2030 ein Zwischenziel von verbleibenden Steinkohle- und Braunkohlekraftwerken von 17 GW und CO²-Emissionen von 175-183 Mio. t vorgegeben. Mit dem Gesetz zur Reduzierung und zur Beendigung der Kohleverstromung (KVBG) wurde dieses Zielniveau als gesetzliche Verpflichtung übernommen. Die aktuelle Novelle zum Klimaschutzgesetz gibt der Energiewirtschaft für 2030 CO²-Emissionen von höchstens 108 Mio Tonnen vor, so dass Braun- und Steinkohlekraftwerken nur noch mit einer Gesamtleistung von 10,5 GW betrieben werden dürfen. Wie durch diese Verschärfung die sich auftuende Lücke in der Versorgungssicherheit gelöst werden soll, lässt der Gesetzgeber offen.

Eine wichtige Antwort fehlen gelassen hat zudem Bundeswirtschaftsminister Altmaier in seiner neuesten Prognose des Anstiegs des Stromverbrauchs im Jahre 2030 auf 645-665 Terawattstunden wie der damit einhergehende höhere gesicherte Kraftwerkleistungsbedarf gedeckt werden soll. Die erfolgte Inbetriebnahme der Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsanlage Nordlink ist zwar ein richtiger Schritt, kann jedoch die Problematik mit einer Kapazität von 1,4 GW nur im geringen Maße lösen.  Es ist daher Trugschluss, dass die aufkommenden erheblichen Lücken in den Kraftwerks- und Speicherkapazitäten gedeckt werden können.  
 
Neben der Betrachtung von Versorgungssicherheit durch die Verfügbarkeit von gesicherter Leistung spielt die Qualität der Stromversorgung eine sehr wichtige Rolle für den Wirtschafts- und Industriestandort Deutschland.

Die Versorgungsqualität ist insbesondere vor dem Hintergrund zunehmender Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung der Produktionsprozesse (Industrie 4.0) ein zentraler Standortfaktor für die industrielle Produktion in Deutschland. Schon kurzzeitige Spannungseinbrüche führen zu Störungen und Produktionsausfällen an automatisierten Anlagen und sorgen in diesem Zusammenhang für Schäden an Material und Anlagen. Bereits heute beobachten Unternehmen jedoch in der betrieblichen Praxis eine Abnahme der Versorgungsqualität durch eine Zunahme von Spannungsschwankungen. „Wackler“, d.h. kurzzeitige Störungen des sinusförmigen Spannungsverlaufs sind problematisch für die Anlagen in der Produktion. Durch Automatisierung, Digitalisierung und Vernetzung von Prozessen wird diese Herausforderung zukünftig noch stärker an Bedeutung zunehmen. Aus diesen Gründen ist die Weiterentwicklung des Konzepts der Versorgungssicherheit einschließlich einer Berücksichtigung des Faktors Versorgungsqualität notwendig. Es muss sichergestellt sein, dass auch im Zuge der Transformation des Energiesystems Versorgungssicherheit und eine hohe Qualität der Stromversorgung weiterhin gewährleistet sind.

Zur Überprüfung der Versorgungsqualität müssen objektive Kriterien definiert und regelmäßig überprüft werden. Bisher werden mit dem SAIDI-Wert nur Unterbrechungen über drei Minuten gemessen. Für das produzierende Gewerbe reicht diese Betrachtung jedoch nicht aus. Schon Unterbrechungen und Spannungsschwankungen im Millisekundenbereich können erhebliche negative Auswirkungen haben und müssen daher zukünftig vom Monitoring der Versorgungssicherheit abgedeckt sein und in dessen Bewertung einfließen. Eine Bewertung des wichtigen Standortfaktors Versorgungssicherheit sollte grundsätzlich auf sehr robusten Annahmen basieren.

Das Monitoring zu Versorgungssicherheit und -Qualität könnte durch die Aufnahme von weiteren objektiven Kriterien wie der Betrachtung der 1) Frequenzstabilität, 2) der Adäquanz von Übertragungs-/Verteilleistung im Netz, 3) der Adäquanz von gesicherter Leistung sowie 4) der Betrachtung von Spannungsqualität ergänzt werden. Mit der Erweiterung um diese Prüfkriterien würde das Monitoring ein umfassenderes Bild von der Stromversorgung erfassen und wäre auch in der Lage eine qualifiziertere Aussage zum Aspekt der Qualität der Stromversorgung zu treffen.

Frequenzstabilität: Von herausragender Bedeutung für einen stabilen Netzbetrieb ist die Frequenzstabilität. Die Netzfrequenz weist einen Sollwert i.H.v. 50,000 Hz ± 0,010 Hz auf. Bewegt sich die Netzfrequenz innerhalb der Toleranzgrenze von 10 mHz um den Sollwert (sog. Totband), wird keine Regelleistung aktiviert. Liegt die Frequenz außerhalb des Totbandes, wird zur Stabilisierung und zur Rückführung der Netzfrequenz auf den Sollwert Regelleistung aktiviert und Regelarbeit abgerufen. Im Falle von Großstörungen sind die Übertragungsnetzbetreiber berechtigt und verpflichtet zur Wahrung der Systemstabilität Last abzuwerfen (Fünf-Stufen-Notfallplan gem. Transmission Code 2007). Ursache für eine Frequenzabweichung ist stets eine nicht ausgeglichene Leistungsbilanz von Stromerzeugung und -verbrauch. Deshalb ist die Frequenzstabilität insbesondere im Hinblick auf die Stilllegung steuerbarer und gesicherter Erzeugungsleistung im Zuge des Kohleausstiegs ein essenzieller Analyseparameter. Die Bewertung der Frequenzstabilität kann zunächst anhand der mittleren Frequenzabweichung außerhalb des Totbandes über einen spezifischen Zeitraum, beispielsweise innerhalb eines Kalenderjahres, erfolgen:
Diese Primärbetrachtung kann und sollte von weiteren statistischen Kenngrößen wie Standardfehler u.a. flankiert werden.

Adäquanz der Übertragungs-/Verteilleistung (Netzadäquanz): Auch im Falle einer ausgeglichenen Leistungsbilanz von Erzeugung und Letztverbrauch kann die Versorgungsicherheit durch Netzengpässe beeinträchtigt werden. Eine Kompensation erfolgt langfristig durch Netzausbau und kurzfristig durch Erzeugungsverlagerung mittels Reservekraftwerken bzw. Kraftwerks-Redispatch. Die durch die Reservekraftwerke geleistete elektrische strombedingte Redispatcharbeit wird beispielsweise durch die Bundesnetzagentur turnusmäßig ausgewertet und veröffentlicht. Diese entsprechend veröffentlichten Daten können zur Bewertung der Versorgungsqualität und dem Zustand des Versorgungssystems herangezogen werden.

Adäquanz gesicherter Leistung (Leistungsadäquanz): Die Adäquanz gesicherter Leistung kann beispielsweise durch bilanzielle Betrachtung verfügbarer gesicherter Leistung und der erwarteten Jahreslastspitze oder temporärer Lastspitzen evaluiert werden. Die erwartete Jahreshöchstlast muss zu jeder Zeit – auch kurzfristig zur Behebung schnell und unerwartet auftretender Systembilanzabweichungen – durch gesicherte inländische sowie vertraglich und technisch gesicherte ausländische Kraftwerksleistung inklusive eines Sicherheitszuschlags gedeckt werden können.

Spannungsstabilität: Die Einhaltung der notwendigen Spannungstoleranz ist eng mit der Bereitstellung von Blindleistung verknüpft. Die Einhaltung der erforderlichen Spannungstoleranz wird durch gezielte Einspeisung oder Aufnahme von Blindleistung gewährleistet. Diese spannungsbedingte Redispatcharbeit, also die gezielte Einspeisung oder Aufnahme von Blindleistung kann als Bemessungsparameter herangezogen werden und die Spannungstoleranz als Indikator prüfen.