Enteignungsdebatte: Wie Berlin den Sozialismus wiederentdeckt

Datum des Artikels 19.06.2019

Berlin hat ein Problem. Es wächst und hat nicht genug Wohnraum für seine neuen Einwohner. Deswegen steigen die Mieten. In den vergangenen zehn Jahren haben sie sich verdoppelt. Eine Initiative fordert die Vergesellschaftung von Wohnungen. Die Wohnungsgesellschaften stehen unter Druck.

Das RAW-Gelände im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ist eine der Partymeilen Berlins. Der Bezirk ist vor allem bei Touristen und all jenen beliebt, die unbedingt in Berlin leben möchten. Berlin war für viele schon immer ein Sehnsuchtsort, aber in den Nullerjahren erlebte die Stadt ein neues Hoch, auch angestoßen durch den berühmt-berüchtigten „Arm aber sexy“-Ausspruch des einstigen Bürgermeisters Klaus Wowereit. Über sexy kann gestritten werden, arm trifft aber zweifelsohne zu. Diese Armut hatte einen für viele Bewohner positiven Aspekt – spottbillige Mieten. Wunderschöne Altbauwohnungen, zentral gelegen, für fast jeden Geldbeutel bezahlbar – das war durchaus eines der Berliner Erfolgsmodelle. Denn die günstigen Mieten lockten junge Menschen an, die oft gut ausgebildet waren und sich in der Hauptstadt verwirklichen wollten. Sie gründeten Unternehmen und dank der günstigen Mieten hatten sie keinerlei Probleme, Mitarbeiter und Geschäftsräume

zu finden. Ohne die günstigen Mieten gäbe es heute vielleicht kein Zalando, kein Rocket-Internet, nicht die zahlreichen Co-Working-Spaces. Ohne die günstigen Mieten wäre Berlin heute nicht die Startup-Hauptstadt Deutschlands.
Aber kein Fortschritt ohne Verlierer. Packten die Gründer von Zalando zu Beginn die Päckchen noch teilweise selbst in kleinen Büros in der Torstraße, baut der börsennotierte Konzern heute riesige Bürokomplexe direkt bei der Eastside-Gallery für seine etwa 6000 Mitarbeiter. Im gleichen Zeitraum haben sich die Mieten in Berlin fast verdoppelt.

Berlin - Stadt der Demonstrationen

Berlin wäre nicht Berlin, wenn es dagegen keinen Widerstand gäbe. Es ist ein sonniger Samstagvormittag im Mai, und ein Bündnis aus verschiedenen Bürgerinitiativen und
Verbänden hat zur Demonstration gegen die steigenden Mieten aufgerufen. Der Ort der Kundgebung ist eine Straße direkt neben dem RAW-Gelände. Hier konnte der Berliner einst einer seiner liebsten Beschäftigungen nachgehen: am Wochenende ordentlich feiern gehen. Dann kamen die Touristen und Drogendealer. Der Ort geriet in Verruf. So richtig schlimm wurde es aus Sicht vieler Berliner aber 2015. Damals wurde ein großer Teil des Geländes von einem Investor aufgekauft. Der will dort natürlich bauen, was wiederum den Ansässigen nicht passt und die Politik überfordert. Die reagiert dann mit ihrem Lieblingsinstrument: Sie verhängt einen Schutzstatus. Dieser gilt für einige Jahre. Während dieser Zeit darf meist nicht gebaut werden und die Beteiligten suchen nach einer Lösung.
Teil dieser Lösungsfindung sind in Berlin immer auch Demonstrationen und Kundgebungen, bei denen Anwohner oder andere Betroffene erklären, was ihnen nicht passt. Dabei wundert ein wenig, wer hier eigentlich demonstriert. Es sind junge, zugezogene Menschen. Viele haben studiert, fast alle haben einen Abschluss. Die meisten sind hierher gezogen, um zu arbeiten und sich zu verwirklichen. Zum Beispiel Tom. Er ist 24 Jahre alt, Veranstaltungstechniker und wohnt seit drei Jahren in der Hauptstadt. Auf die Frage, ob er als Zugezogener mit fester Anstellung und
akzeptablem Einkommen nicht auch Teil des Problems sei, blickt er überrascht auf. „Nein, ich bin nicht Teil des Problems. Das Problem sind Investoren, die mit dem Recht auf Wohnen Geld verdienen wollen.“ Aber sind es nicht die Zugezogenen, die die Alteingesessenen vertreiben, da sie bereit sind, höhere Mieten zu zahlen? „Ich bin trotzdem kein Gentrifizierer. Außerdem engagiere ich mich ja dagegen, zum Beispiel hier auf der Demo“, entgegnet Tom. Als Gentrifizierung wird die innerstädtische Verdrängung einkommensschwächerer Haushalte durch wohlhabendere Haushalte bezeichnet. Auch ein Grüppchen von fünf Demonstranten muss bei der Frage zunächst lachen. Dann stimmen sie aber durchaus zu. Ja, wer nach Berlin zieht und bereit ist, hohe Mieten zu zahlen, sei Teil des Problems. „Aber soll man jetzt einfach verbieten, nach Berlin zu ziehen? Das wäre auch Quatsch. Wir möchten hierher ziehen können, ohne andere dadurch zu vertreiben.“

Den Sozialismus in seinem Lauf...

Die Debatte um Mietpreise wird in Berlin schon seit einigen Jahren geführt. Bundesweite Aufmerksamkeit erhielt sie durch das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Helge Peters ist einer der Sprecher des Volksbegehrens. Er ist 35 Jahre alt, promovierter Geograph und lebt in Neukölln. Die Lage des Wohnungsmarktes in Neukölln beschreibt Peters so: „In anderen Bezirken, beispielsweise Prenzlauer Berg, sind die Verdrängungsprozesse schon weiter fortgeschritten. Auch in Neukölln merken wir, dass die Einschläge näher kommen.“ In Zahlen ausgedrückt: Zwischen 2007 und 2018 stiegen die Mieten in Neukölln um rund 150 Prozent.
Allerdings: Im europäischen Vergleich liegen Berlins Mieten – immerhin eine Metropole in einem der reichsten Länder der Welt – gerade einmal im Mittelfeld. In London, Paris oder Stockholm werden teils doppelt so hohe Mieten gezahlt. Und trotz der rasanten Steigerung wohnt man in Berlin auch heute noch billiger als in München oder Hamburg. Statt von einer Krise des Berliner Mietmarktes könnte man also auch von einer Normalisierung sprechen. Die Nachfrage bestimmt den Preis, und Großstädte sind derzeit eben teurer als das Umland. Im Gegenzug werden aber auch höhere Gehälter bezahlt. Nicht so in Berlin. Denn während die Mieten steigen, stagnieren Gehälter und Löhne. Das real verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in der Hauptstadt stieg zwischen 2000 und 2016 um gerade einmal 1,3 Prozent. Zum Vergleich: In Hamburg waren es im gleichen Zeitraum 6,3 Prozent, in München 4,8 Prozent. Die Berliner geben im Durchschnitt 46 Prozent ihres Einkommens für Wohnen und Mieten aus. Das entspricht fast jedem zweiten verdienten Euro. Experten empfehlen, maximal ein Drittel des Einkommens in die Miete zu investieren. In einer Stadt, in der 85 Prozent der Einwohner zur Miete leben, überrascht es dann wenig, dass die Forderung nach Vergesellschaftung großer Wohnungsgesellschaften in Berlin so populär ist. Helge Peters wird grundsätzlich: „Wir werden den Wählerinnen und Wählern in Berlin eine Frage stellen: Was ist ihre Wohnung eigentlich? Ist es ihr Zuhause oder ist es ein Finanzprodukt? Geht es darum, zu wohnen, oder geht es darum, Geld für einen Investor zu machen? Bei 85 Prozent Mietern in dieser Stadt glaube ich zu wissen, wie diese Frage beantwortet wird.“

Bauen, bauen, bauen

Marko Rosteck, der Pressesprecher der Deutschen Wohnen, kann darüber nur den Kopf schütteln: „Die ganze Debatte hat mittlerweile so eine hohe Aufmerksamkeit, dass wir auch häufiger von ausländischen Journalisten kontaktiert werden. Die können gar nicht begreifen, wie Berlin, eine Stadt die vor 30 Jahren den Sozialismus überwunden hat, heute Enteignungsdebatten führen kann.“ Aus seiner Sicht wollen die Aktivisten keine sachliche Debatte führen, sondern eine Grundsatzfrage stellen. Er verweist auf den Mietendeckel. Damit will der Berliner Senat die Mieten in der Stadt für fünf Jahre einfrieren. „Die Ankündigung des Mietendeckels hatte keinerlei Auswirkungen auf die Forderungen der Aktivisten. Das legt den Verdacht nahe, dass es hier weniger um die Berliner Mieter oder um mehr Gerechtigkeit auf dem Wohnungsmarkt geht, sondern um grundsätzliche gesellschaftspolitische Ziele“, sagt Rosteck. Den Mietendeckel sieht auch Christian Gräff, Landesvorsitzender der MIT Berlin und bau- und wohnungspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, kritisch: „Die undifferenzierte Debatte um einen Mietendeckel schadet den nachhaltig orientierten Vermietern.“ Energetische Sanierung und altersgerechter Umbau von Wohnungen würden in Berlin nicht mehr stattfinden. „Damit ist das eigentliche Ziel der Linken in der Stadt erreicht worden: Berlin zu einer Insel zu machen.“ Gräff und die CDU-Fraktion fordern einen runden Tisch für stabile Mieten und Wohnungsneubauten. Tatsächlich würde die Vergesellschaftungder Wohnungsgesellschaften keine einzige neue Wohnung schaffen. Die Deutsche Wohnen will schon lange in Berlin bauen: „Wir haben ein Grundstück in Charlottenburg, das wir bebauen wollen. Wir warten aber seit sechs Jahren auf eine Baugenehmigung“, sagt Rosteck. Die Deutsche Wohnen und der Bezirk Charlottenburg hätten lange verhandelt und mehrere Vereinbarungen getroffen. „Die
Bezirksverwaltung ging dann zur Politik. Die war mit den Ergebnissen nicht einverstanden, und dann musste das gesamte Paket erneut aufgeschnürt werden. Das ist ein großes Problem in Berlin: In die Baugenehmigungsverfahren werden immer auch politische Forderungen eingemischt. Dadurch werden Verfahren verlangsamt und die Baukosten steigen“, berichtet er.

Fehlende Wohnungen sind tatsächlich das Hauptproblem in Berlin. Gäbe es mehr sozialen Wohnungsbau, wäre der Mietmarkt nicht so überheizt. Berlin hat unter Klaus Wowereit zehntausende Sozialwohnungen verkauft, in der Annahme, das Wachstum der Stadt werde künftig stagnieren. Es kam anders. Das ist auch einer der Vorwürfe, die der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ oft gemacht werden: Enteignungen schaffen nun mal keine neuen Wohnungen. Helge Peters sagt, dass es der Initiative darum auch nicht gehe: „Vergesellschaftung soll keine neuen Wohnungen schaffen. Sie soll Verdrängung beenden. Natürlich sollen auch wieder mehr Wohnungen gebaut werden. Wir wollen aber zunächst die dramatische soziale Säuberung Berlins aufhalten.“ Peters zitiert eine Studie der Berliner Humboldt Universität. Die kam zu dem Ergebnis, dass 20 Prozent der Umzüge in Berlin nicht freiwillig sind, sondern die Folge von Verdrängung, etwa durch steigende Mieten. Dies könne laut Peters auch nicht im Interesse mittelständischer Unternehmen sein. Eine Umfrage der IHK Berlin kam zu dem Ergebnis, dass 80 Prozent der Berliner IHK-Mitglieder Vergesellschaftungen ablehnen. „Im Umkehrschluss heißt das aber, dass 20 Prozent sich durchaus eine Vergesellschaftung vorstellen können. Es leiden ja auch kleinere Unternehmen unter den Mietsteigerungen, entweder weil sie selbst betroffen sind oder weil sie Schwierigkeiten haben, Mitarbeiter zu finden“, folgert Peters. Marko Rosteck von der Deutschen Wohnen ist sich in einer Sache sicher: „Die Lage wird sich weiter zuspitzen, wenn man die Trendwende zu mehr Wohnungen nicht schafft.“ Er würde sich wünschen, dass in Berlin „mit der gleichen Leidenschaft, mit der jetzt die Wohnungsgesellschaften bekämpft werden, für den Neubau von Wohnungen gekämpft wird. Wir müssen diese Debatte pragmatischer und kooperativer führen." 

Enteignung oder Vergesellschaftung - was ist der Unterschied?

Enteignungen sind in Artikel 14 des Grundgesetztes geregelt. Sie sind nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig und müssen entschädigt werden. Die Höhe der Entschädigung bemisst sich an den Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten. Im Streitfall steht es den Betroffenen zu, vor Gericht zu ziehen. Enteignungen werden in Deutschland meist dann vorgenommen, wenn damit Infrastrukturprojekte realisiert werden können.

Die Vergesellschaftung wird in Artikel 15 des Grundgesetzes geregelt. Dort heißt es: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung […] in Gemeingut oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ Auf diesen Artikel berufen sich die Initiatoren des Volksbegehrens. Artikel 15 wurde in der Geschichte der Bundesrepublik allerdings noch nie angewandt. Ob er als rechtliche Grundlage zur Vergesellschaftung der Wohnungsgesellschaften ausreicht, muss sich erst zeigen.

Dieser Artikel erschien im Mittelstandsmagazin, Ausgabe 03-2019