Gründerschutzzonen: Beinfreiheit für den Mittelstand von morgen

Datum des Artikels 18.09.2023
MittelstandsMagazin

Start-ups, die bis 2030 gegründet werden, könnten rund 2,3 Billionen Euro zum deutschen BIP beitragen. Aber dafür brauchen sie bessere Bedingungen

Mit dem Beschluss des Zukunftsfinanzierungsgesetzes im Bundeskabinett am 16. August machte sich große Enttäuschung in der Gründerszene breit. Die Anhebung der steuerlichen Freibeträge für Mitarbeiterkapitalbeteiligungen von 1.440 auf 5.000 Euro ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die von der MIT-Bundesvorsitzenden Gitta Connemann geforderte Anhebung auf 10.000 Euro hätte berücksichtigt werden sollen. Auch eine Pauschalbesteuerung, also eine Besteuerung von Mitarbeiterkapitalbeteiligungen wie normale Aktien, hätte international ein Zeichen gesetzt. Denn die immense Rolle von Gründerinnen und Gründern als Motor für wirtschaftliches Wachstum und Innovation ist unbestreitbar.
Die Start-ups von heute sind der Mittelstand von morgen – und der ist das Rückgrat unserer Volkswirtschaft. Die neuesten Prognosen von McKinsey zeigen, dass Start-ups, die zwischen heute und 2030 gegründet werden, einen geschätzten Beitrag von fast 2,3 Billionen Euro zur deutschen Wirtschaft leisten könnten, was die Marktkapitalisierung der heutigen DAX-40-Unternehmen um mehr als 20 Prozent übertreffen würde. Um diese beeindruckenden Zahlen zu erreichen, bedarf es einer Beschleunigung der bereits heute hohen Dynamik im Start-up-Ökosystem, das jährlich im Schnitt etwa 2900 neue Start-ups hervorbringt.
Die aktuelle Gründungsaktivität, die bereits 1,1 Billionen Euro zum Bruttoinlandsprodukt bis 2030 leistet, könnte durch zusätzliche Anstrengungen um weitere 1,2 Billionen Euro an Wertschöpfung gesteigert werden, sodass bis 2030 insgesamt 2,3 Billionen Euro erreicht werden könnten. Die mögliche Wertsteigerung hat zwei Hebel. Erstens könnte die Verdopplung der jährlich gegründeten Start- ups im Jahr 2030 im Vergleich zu heute allein 500 Milliarden Euro an Wert schaffen. Zweitens könnte eine verbesserte Erfolgswahrscheinlichkeit für Start-ups weitere 500 Milliarden Euro an Wert beitragen. Kombiniert man beide Hebel, könnte der gesteigerte Erfolg zusätzlich gegründeter Start- ups weitere 200 Milliarden Euro an Wert generieren, um die oben genannten 2,3 Billionen Euro zu erreichen.
Darüber hinaus könnten dieselben Maßnahmen zwischen heute und 2030 insgesamt 1,44 Millionen neue Arbeitsplätze in den gegründeten Start-ups schaffen. Diese imponierenden Zah- len verdeutlichen das riesige Potenzial von Start-ups für die deutsche Wirtschaft und die Notwendigkeit, gezielte Maßnahmen zu ergreifen, um diese Dynamik weiter zu beschleunigen.
In diesem Zusammenhang rückt das Konzept der Reallabore in den Blick. Reallabore bieten eine kontrollierte Umgebung, in der Gründerinnen und Gründer innovative Ideen testen und gleichzeitig regulatorische Flexibilität erhalten können. Das Ziel ist es, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen unternehmerischer Freiheit und Regulierung zu schaffen, um die Dynamik des Start-up-Sektors zu entfalten. Die Schaffung dieses dynamischen Umfelds für das deutsche Start-up-Ökosystem kann den Weg für eine blühende Gründerkultur in Deutschland ebnen. Jedoch stehen Gründerinnen und Gründer in Deutschland vor einer Viel- und Statistikpflichten und weg mit Bußgelddrohungen selbst bei fahrlässigen Fehlern.
Christoph J. Stresing, Geschäftsführer beim „Bundesverband Deutsche Startups“: „Wichtige Voraussetzung für Innovationen sind verlässliche Leitplanken. Dabei geht es gerade nicht darum, Entwicklungen zu begrenzen, sondern vielmehr im Gegenteil darum, mit einem rechtlichen Rahmen einen Raum für Erprobungen von innovativen Technologien zu gewährleisten.“
Dabei bieten Experimentierklauseln, die oft die rechtliche Grundlage für Reallabore bilden, den Behörden eine Möglichkeit, einen gewissen Flexibilitätsgrad bei der Erprobung innovativer Ansätze anzuwenden. Dadurch können neue Ideen schneller umgesetzt und auf ihre praktische Tauglichkeit getestet werden. Reallabore sind eine gute Plattform für Technologien, die von iterativen Tests unter realen Bedingungen im Entwicklungsprozess profitieren können. Ein Beispiel hier- für wäre ein autonomer Lieferroboter. Reallabore legen einen besonderen Schwerpunkt darauf, Produkte oder Dienstleistungen gleichzeitig zu testen und zu gestalten, indem sie Umgebungsvariablen bewusst als Teil des Untersuchungsumfelds einbeziehen. Dabei verfolgen sie einen ko-kreativen Ansatz, bei dem Endnutzer aktiv in den Entwicklungsprozess einbezogen werden. Der Aufbau von Reallaboren ermöglicht es, den Grad der Nutzerbeteiligung am Innovationsprozess kontrolliert zu erhöhen. Initiatoren von Reallaboren haben die Möglichkeit, den Komplexitätsgrad, der mit der Öffnung des Innovationsprozesses einhergeht, bewusst zu steuern, in- dem sie den Zugang zu Reallaboren auf bestimmte Nutzergruppen beschränken. Dadurch können sie gezielt bestimmte Zielgruppen ansprechen und das Potenzial für wertvolles Nutzerfeedback maximieren.
Dazu sagt Fin Age Hänsel, CEO der Sanity Group: „Einheitliche Standards für Reallabore, in denen auch in Deutschland unter ‚echten Bedingungen‘ Innovationen getestet werden können, sind unabdingbar, um im Markt wettbewerbsfähig zu bleiben und langfristig nicht nur Technologien zu entwickeln, sondern sie auch nach Anwendung in einem realen Umfeld weiterzuentwickeln und somit am Standort zu halten. Aus Sicht von Gründern und der Digitalwirtschaft ist es unabdingbar, dass Deutschland hier nicht nur an internationale Regeln ‚anschließt‘, sondern Vorreiter wird, so dass wir nicht nur unsere heutige Forschung & Entwicklung verteidigen, sondern auch mehr Technologieentwickler aus aller Welt anziehen und am Standort Deutschland sesshaft machen.“
Die Möglichkeiten der Finanzierung von Unternehmen in ihrer Gründungsphase ist dafür ein essenzieller Faktor. Während die Finanzierungsmöglichkeiten in den Frühphasen des Wachstums mittlerweile auch in Deutschland zufriedenstellend sind, steht in der Spätphase des Wachstums nicht ausreichend Kapital zur Verfügung. Besorgniserregend ist, dass nordamerikanische Investoren größere Anteile an deutschen Start-ups halten als heimische Pensionsfonds.
Dabei verlagert sich die Kontrolle häufig dorthin, woher das Geld stammt. US-Fonds halten mittlerweile 10 Prozent der deutschen Tech-Einhörner (47 Mrd. Euro), Deutsche dagegen 0,2 Prozent. Einen weiteren wichtigen Schritt stellt hierbei die Förderung von mehr Börsengängen in Deutschland dar, um das deutsche Start-up-Ökosystem zu stärken. Neben dem Skalieren ist der Exit eines Start-ups die entscheidende Phase seiner Wertschöpfungsreise. Derzeit führen viele deutsche Start-ups ihre Börsengänge außerhalb Deutschlands durch, hauptsächlich, weil der Prozess dort schneller und einfacher ist und oft auch lukrativer erscheint. Um den Wert innerhalb des heimischen Start-up-Ökosystems zu halten, sollte Deutschland die Effizienz des Börsengangs verbessern, um mehr Exits im Inland zu ermöglichen.
Nicht jedes Start-up hat das ultimative Ziel, durch Venture Capital oder einen Börsengang zu wachsen. Unter- nehmen, die zu Mitgliedern des „New German Mittelstand“ heranwachsen, hören oft nach einigen Finanzierungs- runden auf, Geld aufzunehmen, bleiben trotzdem auf der Erfolgsspur. Ein Beispiel dafür ist Think-cell, ein Soft- ware-Unternehmen aus Berlin, das für mehr als 1 Milliarde Euro erworben wurde – mit nur sehr geringer Venture- Capital-Finanzierung. Diese Unternehmen tragen zwar nur etwa 15 Prozent des von Start-ups zwischen heute und 2030 geschaffenen Wertes bei, steuern jedoch im Verhältnis zu ihrer Marktkapitalisierung etwa doppelt so viele Arbeitsplätze bei (rund 30 Prozent).
Zudem deutet das Beispiel von Think-cell darauf hin, dass der Wert von Unternehmen im „New German Mittelstand“ höher sein könnte als man durch Betrachtung ihrer letzten Finanzierungsrunde messen kann. Ihr Fokus auf Profitabilität in früheren Phasen des unternehmerischen Prozesses bedeutet, dass die von ihnen geschaffenen Arbeitsplätze tendenziell stabiler sind als die ihrer hyperwachsenden Pendants.
Eine ausgewogene Unterstützung sowohl für hyperwachsende Start-ups als auch für Unternehmen des „New German Mittelstand“ könnte das Potenzial der deutschen Gründerszene voll ausschöpfen und die langfristige wirtschaftliche Stabilität des Landes stärken. Auch Niklas Veltkamp, Mitglied der Geschäftsleitung von Bitkom, findet: „Die Idee der Reallabore ist einfach, aber effektiv: Innovationen werden unter Realbedingungen sicher getestet. Auf Basis der gesammelten Erfahrungen wiederum werden Gesetze angepasst, die dem Markteintritt der Innovation zuvor im Wege standen. Unterm Strich soll dann eine innovationsfreundlichere Gesetzgebung stehen.“
Die Ampelregierung muss bei der Errichtung von Gründerschutzzonen dringend Nägel mit Köpfen machen. Sie muss Reallabore als Instrument zur Förderung von Innovationen und der Entwicklung neuer Technologien nutzen. Der Fokus sollte auf der Schaffung eines strukturierten Rahmens liegen, der Experimente ermöglicht, während gleichzeitig angemessene Schutzmaßnahmen gewährleistet wer- den, um Risiken zu vermeiden.
Es ist wichtig, von den Erfahrungen anderer Länder zu lernen und die regulatorische Umgebung für Start-ups und innovative Unternehmen in Deutschland zu verbessern. Hierbei betont Christoph J. Stresing, dass es neben dieser „chancenorientierten Mentalität auch flankierender Maßnahmen, wie unter anderem hinreichende Finanzierungsmöglichkeiten und attraktive Rahmenbedingungen für die Talentgewinnung und -bindung“, bedarf. Nur so lässt sich sicherstellen, dass Deutschland weiterhin ein führender Akteur in der digitalen Wirtschaft und technologischen Innovation bleibt.

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