Interview mit Julia Klöckner: "Man sollte den Verbrauchern nicht alles vorschreiben"

Datum des Artikels 18.09.2018

Als Winzertochter kennt sich Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner mit Belangen des Mittelstands aus. Im Gespräch mit Mittelstandsmagazin-Chefredakteur Thorsten Alsleben spricht die CDU-Vizechefin über Werbeverbote, Zuckersteuer, Stalleinbrüche von NGOs und die Marktwirtschaft in der Landwirtschaft.

Frau Ministerin, viele unserer Leser treibt das Agieren mancher Nichtregierungsorganisationen – NGOs – um. Gerade Tierhalter sind damit konfrontiert, dass NGOs bei ihnen in die Ställe einbrechen, um angebliche Skandale aufzudecken. Sind Sie da auf der Seite der Tierschützer oder der Tierhalter?

Julia Klöckner: Tierhalter sind in der Regel auch Tierschützer, weil sie mit und von ihren Tieren leben und den Betrieb auch weitergeben wollen. Und wer glaubt, dass ein Stall-einbruch nach dem Motto „der Zweck heiligt die Mittel“ eine Bagatelle ist, der macht Tür und Tor auf für selbsternannte „Bürgerpolizisten“. Selbst wenn der Verdacht der Nicht-Einhaltung des Tierschutzgesetzes besteht, sind die staatlichen Behörden gefragt. Die Kontrolle der Einhaltung der gesetzlichen Regelungen ist Sache der Länder. Wir brauchen ganz klar in allen Bundesländern ein gleichermaßen gutes und wirksames Kontrollsystem. Wenn es Lücken gibt, müssen sie geschlossen werden. Tiere sind Mitgeschöpfe und keine leblose Ware. Und wer gegen den Tierschutz verstößt, der muss auch mit harten Strafen rechnen. Und das ist auch richtig. Alles andere wäre Selbstjustiz, die wir nicht wollen.

Muss man NGOs wie die Deutsche Umwelthilfe nicht auch ein bisschen kritischer ansehen, zum Beispiel wer sie finanziert? Solche Organisationen erheben sich oft selbst zum Anwalt für Verbraucher oder die Allgemeinheit, obwohl sie damit gar nicht beauftragt wurden.

Wir sollten nicht pauschalisieren. Viele NGOs haben gesellschaftliche Debatten und Entscheidungen vorangebracht, sind unbequem, keine Frage. Aber nicht jede NGO ist unantastbar, es gibt viele mit einem dahinterstehenden Geschäftsmodell unter dem Deckmantel des vermeintlich Guten. Und einige halten sich nicht an die Standards, die sie von anderen einfordern. Zum Beispiel Transparenz bei der Finanzierung und Mittelverwendung.

Im Koalitionsvertrag gibt es keine Forderung nach einem Tabakwerbeverbot, trotzdem kommt die Diskussion immer wieder hoch. Kommt das Verbot nun doch?

Rauchen ist nicht gesund. Und die Krankheiten infolge des Rauchens sind massiv. Vor allem, wenn man in jungen Jahren mit dem Rauchen beginnt, hat das erhebliche Auswirkungen. Nicht nur für den Einzelnen, sondern für die gesamte Volkswirtschaft und das Gesundheitssystem. Die Verbraucher sind aufgerufen, ihre Entscheidungen reflektiert und eigenverantwortlich zu treffen. Man sollte den Verbrauchern als Staat aber nicht alles vorschreiben. Auch wenn ein Produkt gesundheitsschädlich ist, wird es immer Menschen geben, die trotz besseren Wissens zugreifen. Ob es beim Werbeverbot Veränderungen gibt, hängt davon ab, ob die Koalitionäre das gemeinsam wollen.

Beim Zucker gibt’s auch die Debatte, ob man wie in Großbritannien den Verkauf stärker besteuern sollte. Kein Verbot, kein Werbeverbot, aber höhere Steuern?

Deutschland hat im wahrsten Sinne des Wortes ein zunehmendes Problem mit Über-und Fehlernährung. Es gibt immer mehr Kinder mit Adipositas – das ist alarmierend. Ob eine Steuer auf einen einzelnen Inhaltsstoff hilft, bezweifle ich. Ich bin für eine Gesamtstrategie und gegen kurzfristige Maßnahmen, die vielleicht auf den ersten -
Blick gut klingen – aber eher Symbolcharakter haben. Eine Steuer ist ja kein Selbstzweck. Selbst wenn sich die Zuckeraufnahme durch ein Produkt reduziert, heißt das nicht automatisch, dass sich die Gesamtzuckeraufnahme oder Gesamtkalorienzahl reduziert, dass sich die Bürger danach besser und ausgewogener ernähren. Ein Beispiel: Dänemark hatte eine Fettsteuer eingeführt und sie wieder zurückgenommen. Was bringt es mir, wenn ich beispielsweise einen Fettanteil in einem Produkt verringere und man bewirbt ihn mit nur 0,1 Prozent Fett, aber dann sind 30 Gramm Zucker drin? Was wir brauchen, ist die Reduzierung der Gesamtkalorienzahl in Fertigprodukten. An einer entsprechenden Reduktions- und Innovationsstrategie arbeite ich zusammen mit der Ernährungswirtschaft und den Verbraucher- und Gesundheitsvertretern. Ferner brauchen wir eine breitere Ernährungsbildung von Kindesbeinen an und besseres Essen in Kita, Schule oder Betrieb, damit die gesunde Wahl zur leichten Wahl wird. Jede Unterstützung bei der Umsetzung dieser ganzheitlichen Strategie ist uns herzlich willkommen.

Auf EU-Ebene wird gerade eine Richtlinie zu unfairen Handelspraktiken im Lebensmittelhandel geplant. Es geht darum, Landwirte und Lebensmittelproduzenten gegenüber dem Handel zu stärken. Der Handel sagt, das sei ein Eingriff in die Vertragsfreiheit. Die Lebensmittelproduzenten dagegen beklagen, dass sie von marktdominanten Handelsketten unfair behandelt würden. Auf welcher Seite stehen Sie da?

Es gibt nicht den Handel. Es gibt ganz unterschiedliche Handelspraktiken. Wenn ein Handelsunternehmen dem Lebensmittelproduzenten die Rechnungen erst nach 90 Tagen oder mehr bezahlt, selbst aber die Ware längst verkauft und das Geld eingenommen hat, dann ist das nicht in Ordnung. Gerade große Lebensmittelketten haben natürlich eine Marktmacht, der die Bauern nicht auf Augenhöhe gegenüberstehen. Landwirte stehen als Primärerzeuger und Rohstofflieferanten am Beginn der Wertschöpfungskette. Ich habe die Beteiligten zu einem Runden Tisch eingeladen, um über Probleme und Klagen zu sprechen. Am Ende sitzen doch alle in einem Boot.
Zu Brüssel: Wir haben in Deutschland bereits Rechtsvorschriften zur Bekämpfung von unlauteren Handelspraktiken, aber das ist nicht in allen Mitgliedstaaten der EU der Fall. Dennoch passen nicht alle Brüsseler Vorschläge in unser bestehendes deutsches Rechtssystem.

Bleiben wir bei Europa. Es wird gerade die gemeinsame europäische Agrarpolitik reformiert, es geht um Milliardensubventionen. Wer werden am Ende die -Gewinner und wer die Verlierer sein?

Gewinner sollten wir alle sein. Erst einmal ist es im Interesse der europäischen Verbraucher, eine starke, zukunftsfähige und nachhaltige Lebensmittelproduktion in der EU zu haben. Deshalb müssen wir Landwirte, die die zusätzlichen gesellschaftlichen Anforderungen an Umwelt- und Naturschutz erfüllen, die über ihr wirtschaftliches Betriebsinteresse hinausgehen, auch finanziell unterstützen. Sonst werden sie im Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig bleiben. Denn andere Produzenten außerhalb Europas haben bei weitem nicht die kostentreibenden Produktionsauflagen wie unsere heimischen Bauern. Die europäische Agrarpolitik wird in Zukunft noch stärker an den Belangen des Umwelt-, Natur- und Klimaschutzes ausgerichtet.

Kommen wir zur Kehrseite der Subventionen. Wir versuchen gerade im anderen Kontext über Fluchtursachen zu reden. In Afrika haben viele Landwirte kein Verständnis dafür, dass in Europa Produkte hochsubventioniert werden und dann billig dem afrikanischen Markt zugeführt werden.

In Deutschland sind die Direktzahlungen für die Landwirte von der landwirtschaftlichen Produktion „entkoppelt“, das heißt, sie werden unabhängig vom Produkt je Hektar landwirtschaftlicher Fläche und der produzierten Menge gewährt. Die Direktzahlungen dienen der Einkommens- und Risikoabsicherung. Es wird damit aber auch das abgegolten, was an Mehrleistungen für die Gesellschaft erwartet wird. Das heißt, Landwirte erhalten Geld, weil sie höhere europäische Standards erfüllen, zum Beispiel Umweltschutzstandards. Wir hätten ja ansonsten eine Wettbewerbsverzerrung, da man in anderen Kontinenten ohne die Auflagen produzieren kann, die Landwirte hier erfüllen müssen. Zielländer der deutschen Exporte sind vor allem kaufkräftige, wachstumsstarke Märkte und nicht die am wenigsten entwickelten Länder. Die Zahlen bestätigen dies: Im Ergebnis exportieren wir zwei Prozent aller deutschen Agrarprodukte in den afrikanischen Markt, aber importieren 3,7 Prozent aus Afrika.

 

 

Sie wollen für Digitalisierung Experimentierfelder schaffen und mit Geld unterlegen. Die MIT fordert jetzt, diese digitalen Experimentierfelder mit Bürokratie-abbau zu verknüpfen. Unsere Landwirte haben sich -beschwert, sie müssten bei der Tierhaltung viermal für unterschiedliche Behörden unterschiedliche Formulare online ausfüllen. Das könnte man doch digital vernetzen und der Landwirt müsste nur einmal alles eingeben?

Richtig. Digitalisierung kann zum Beispiel bei der Vereinfachung des Meldesystems helfen. Plattform und Datenhoheit müssen noch geklärt werden. Zudem hat der Staat Daten, zum Beispiel über den Boden, die den Landwirten kostenlos zur Verfügung gestellt werden sollten. Digitalisierung ist beispielsweise mit dem Melkroboter schon in manchen Kuhstall eingezogen. Bodensensoren und vernetzte Maschinen machen Präzisionslandwirtschaft möglich, um Pflanzenschutzmitteleinsätze zu reduzieren, ihre Auftragung effizienter vorzunehmen, um Daten zwischen Aussaat und Ernte abzugleichen, um Schädlinge früher zu erkennen. So können wir die Pflanzung, Düngung, Unkraut- und Schädlingsbekämpfung viel passgenauer gestalten.

Konkret nochmal zum Thema Bürokratie und verschiedenen Datenpools. Kann man erwarten, dass da in dieser Legislaturperiode etwas passiert, dass also der Landwirt in drei Jahren weniger Daten eingeben muss als bisher?

Wenn alle mitspielen: ja. Ich werde deshalb Experimentierfelder einrichten, um Vernetzungen und Anwendung im optimalen Testumfeld zu demonstrieren und weiter zu entwickeln. Auch mit Blick auf die ländlichen Regionen. Wir wollen uns ansehen, wie in einem Dorf das Thema Digitalisierung aussehen kann: von der Ackerfurche in die Cloud und dann zum lokalen Händler. Auch geht es um die Lösung der Schnittstellenproblematiken von verschiedenen landwirtschaftlichen Gerätschaften auf einem Hof. Es fehlen noch notwendige Standardsetzungen, während andere voranschreiten: China will bis 2025 weltweit führend sein beim Thema Digitalisierung der Landwirtschaft. Wir haben doch eins gelernt: Wer zu lange schläft, wird überrannt von Google, Apple oder Facebook. Und dann beklagen wir uns über deren Marktmacht oder mangelnde Datenschutzstandards.

Noch eine Frage an die stellvertretende CDU-Vorsitzende: Derzeit bilden sich lauter Grüppchen in der CDU – Werteunion, Union der Mitte. Wem stehen Sie nah?

Eine Gruppe, die für sich exklusiv in Anspruch nimmt, für „die“ Werte in der Union zu stehen – das führt uns als Union nicht gerade zusammen. Eine Volkspartei hat verschiedene Flügel, und grundsätzlich muss man eine gewisse Bandbreite auch aushalten – aber es sollte zu keinen Lagerkämpfen untereinander kommen. Statt abgrenzende Gruppen zu bilden, sollten wir uns in der Sache auseinandersetzen. Spannend wird’s ja, wenn man in die einzelnen Themen auch wirklich reingeht. Es gibt Anhänger, für die ist konservativ, an der Atomkraft festzuhalten, es gibt aber auch Mitglieder, die sagen, konservativ ist für mich Bewahrung der Schöpfung und deshalb eben keine Atomkraft. Deshalb sind diese Etiketten rechts, links, konservativ oder progressiv alle nur Platzhalter für eine inhaltliche Debatte, die man scheut oder nicht wirklich geführt hat. Für mich ist zum Beispiel der Einsatz für Recht, Sicherheit und Ordnung in unserem Land keine Frage von rechts oder links, sondern eine Frage des Standards unseres Rechtsstaates. Und wenn ich mich für den ordentlichen Umgang mit Tieren, den Mitgeschöpfen einsetze, dann ist das keine linke Spinnerei, sondern für mich auch Auftrag aus dem Christlichen heraus.

Kommen wir am Schluss zu der bei uns üblichen Satzvervollständigung: Wenn ich mal nicht mehr in der Politik sein werde, wäre mein Traum…?

… gelassen und zufrieden zurückblicken zu können. •

 

Das Interview erschien im Mittelstandsmagazin der MIT, Ausgabe 4-2018

Fotos: Laurence Chaperon