Mit Kernkraft gegen den Klimawandel

Datum des Artikels 17.04.2020
MittelstandsMagazin

Kernkraft ohne langlebige Abfälle und Unfallrisiken? Das versprechen sich Berliner Wissenschaftler vom sogenannten Dual-Fluid-Reaktor. Mit ihrem Modell ließe sich der gesamte in deutschen Kernkraftwerken angefallene Atommüll in einer Kleinanlage verarbeiten – soweit die Theorie.

Das Thema Kernkraft scheint in Deutschland spätestens seit dem Ausstiegsbeschluss im Jahr 2011 endgültig erledigt. Damals war es in Japan nach einem Erdbeben und Tsunamis zu Kernschmelzen im Kraftwerk Fukushima gekommen. Während Japan selbst und viele weitere Staaten auch danach auf Nukleartechnologie setzten, beschloss die Bundesregierung, bis 2022 alle Reaktoren im Bundesgebiet abzuschalten.

Teil einer CO2-freien Lösung?

Zur Überraschung vieler zeigte sich im vergangenen Jahr ausgerechnet Greta Thunberg, die Ikone der weltweiten Klimaschutzbewegung, offen für die Kernkraftnutzung. Sie persönlich sei zwar dagegen. Gemäß Weltklimarat könne diese Energieform aber „ein kleiner Teil einer großen, neuen CO2-freien Energielösung sein“, schrieb Thunberg. Tatsächlich weist die Kernenergie drei zentrale Vorteile auf: Neben der guten Klimabilanz – der CO2-Ausstoß ist einschließlich aller Vorarbeiten so gering wie bei der Windkraft – liefert sie zuverlässig Strom und benötigt dazu wenig Platz, was besonders in dicht besiedelten Industrieländern von Vorteil ist. Die drei wichtigsten Gegenargumente: der radioaktive Müll, die verheerenden Unfallfolgen und die geringen Uranvorräte auf der Erde.

Die vierte Generation 

An der Stelle setzen Forscher in aller Welt an. Weitgehend unbemerkt von der atomkritischen Öffentlichkeit haben Physiker und Ingenieure in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht. Die Renaissance der Kernkraft sollen aber nicht die alten Meiler bringen, sondern eine neue, vierte Generation. Diese verheißt, sicher, wirtschaftlich und nachhaltig, also weitgehend atommüllfrei zu sein. Zu dieser Generation zählen vor allem Flüssigsalz- und Laufwellenreaktoren. An diesen Typen arbeitet beispielsweise
das US-Unternehmen Terra Power, das Microsoft-Mitgründer Bill Gates 2006 gegründet hat.

Flüssigsalzreaktoren arbeiten mit einer flüssigen Salz-Brennstoff-Mischung, die im Reaktor selbst zirkuliert. Herkömmliche Reaktoren lassen die Kernspaltung dagegen in Brennstäben ablaufen und leiten die so entstandene Wärme mit unter hohem Druck stehendem Wasser ab. Das Salz-Konzept hat unter anderem den Vorteil, dass es nicht nur mit angereichertem Uran, sondern auch mit hochradioaktiven Abfall betrieben werden kann. In der Theorie könnte also ein Großteil des Atommülls, der heute endgelagert werden muss, abermals genutzt werden. Ein weiterer Vorteil ist die höhere Sicherheit: Im Falle einer Überhitzung soll das Flüssigsalz in Aufbewahrungstanks abfließen, sodass Kernschmelzen wie in Fukushima ausgeschlossen wären.

Reaktor statt Endlager 

Eine besondere Form dieses Konzeptes haben sich Forscher des privaten Instituts für Festkörper-Kernphysik in Berlin sogar patentieren lassen: den Dual-Fluid-Reaktor (DFR). „Dabei handelt es sich um einen Schnellspaltreaktor mit flüssigem Brennstoff und separater Kühlschleife mit flüssigem Blei“, erklärt MIT-Mitglied Jan-Christian Lewitz, Diplom-Physiker und Berater des IFK. „Daher auch der Name: ‚Dual Fluid‘, also zwei Flüssigkeiten.“ Der DFR habe wegen seiner hohen Arbeitstemperatur einen elektrischen Wirkungsgrad von rund 50 Prozent. Der Reaktor soll mit seiner geringen Größe unterirdisch betrieben werden, um die Gefahr durch Naturkatastrophen, Flugzeugabstürze oder Terrorangriffe zu verringern. „Der entscheidende Sicherheitsvorteil ist aber die passive Sicherheit, die das Dual-Fluid-Prinzip mit 1000 Grad Betriebstemperatur bei Siedetemperaturen von etwa 1600 Grad bietet“, sagt Lewitz. „Es ist ein quasi druckloser Reaktor, Leckagen führen nicht zu katastrophalem Versagen.“

Der Clou liegt im Recycling des Atommülls. Der DFR zerstört nicht nur seine eigenen Abfälle, sondern auch die der alten Kernkraftwerke. Lewitz: „Übrig bleiben nur Spaltprodukte, die nach circa 300 Jahren als Wertstoffe in die Industrie abgegeben werden können. 90 Prozent sind in den ersten 100 Jahren unter die Freigabewerte abgeklungen.“ Damit hätte sich die Suche nach einem Endlager erledigt. Das belegt eine vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geförderte Studie, die das IFK mit Physikern der Technischen Universität München angefertigt hat. Darin kommen die Forscher zu dem Ergebnis, dass sich mit einer einzigen kleinen Destillationsanlage der gesamte in deutschen Kernkraftwerken angefallene Atommüll innerhalb von nur 20 Jahren verarbeiten ließe. „Insgesamt könnte unser Reaktor durch die hohe Leistungsdichte und durch den Wegfall nicht mehr benötigter externer Aufarbeitungsanlagen zu einem Bruchteil der Kosten eines heutigen Atomkraftwerkes betrieben werden“, sagt Lewitz. Eine weiteres „Abfallprodukt“ im Betrieb wären sortierte Radionuklide für Medizin oder für Radionuklidbatterien. Der Haken: Bislang existiert der DFR nur auf dem Papier.

Viele Fragen offen

Der amerikanische Nuklearexperte Edwin Lyman ist daher skeptisch: „Wir wissen so wenig über Flüssigsalzreaktoren, wozu auch der DFR zählt. Es gibt so gut wie keine Betriebserfahrung – und damit viele mögliche Komplikationen bei der Sicherheit“, so der Direktor für Nukleare Sicherheit bei der „Union of Concerned Scientists“ gegenüber dem Mittelstandsmagazin. Flüssigsalzreaktoren würden zudem kontinuierlich Edelgas-Spaltprodukte freisetzen, die angesichts ihrer Geschwindigkeit Rückhaltesysteme mit beispielloser Leistung und Kosten erfordern würden. Es sei schwierig, das alles seriös abzuschätzen. „Für mich sind solche Konzepte reine Fiktion.“

Auch Christoph Pistner vom Öko-Institut in Darmstadt sieht „offene Forschungsfragen in praktisch allen relevanten Technologiebereichen“. Der DFR befinde sich in einer frühen Designphase. „Wesentliche Probleme bei der Entwicklung eines Reaktorkonzepts treten oft erst in der späteren Demonstrationsphase auf, wenn durch Prototyp- und Demonstrationsreaktoren die tatsächliche großtechnische Umsetzbarkeit eines konkreten Designs gezeigt werden muss“, wirft der Bereichsleiter Nukleartechnik und Anlagensicherheit beim Öko-Institut ein.

Forschern fehlt Geld

Damit aus der Fiktion Wirklichkeit wird, hoffen die Wissenschaftler vom IFK auf politische Unterstützung oder die Hilfe von Investoren. Die Baukosten für einen SerienReaktor mit drei Gigawatt thermischer und 1,5 Gigawatt elektrischer Leistung beziffern die Forscher auf unter zwei Milliarden Euro. Die Produktionskosten der elektrischen Energie belaufen sich auf etwa 0,65 Cent pro Kilowattstunde – und entsprechen damit einem Bruchteil der Kosten aller heutigen Energieträger. Ein nächster Systemtest mit nicht-radioaktiven Stoffen im Labormaßstab würde laut IFK mindestens 100 Millionen Euro kosten. Die Entwicklungskosten bis zum Nachweis der praktischen Machbarkeit des DFR schätzt das Institut auf weitere 120 Millionen Euro. Geld, das die Forscher derzeit nicht haben. Doch selbst wenn sich ein Investor finden ließe: Eine politische Mehrheit für Kernforschungsprojekte ist derzeit nicht in Sicht.

"Tür nicht verschließen"

Als im vergangenen Jahr einzelne Wirtschaftsvertreter und Politiker eine Laufzeitverlängerung der bestehenden Meiler ins Spiel brachten, stellten die deutschen Kernkraftwerksbetreiber Eon, RWE und EnBW auf Anfrage klar: Die Nutzung der Kernenergie für die Stromproduktion hat sich in Deutschland für sie erledigt. Die Betreiber haben sich strategisch längst anders organisiert. Das sieht der MIT-Bundesvorsitzende und stellvertretende CDU/CSU-Bundestagsfraktionsvorsitzende Carsten Linnemann ähnlich. Für eine Laufzeitverlängerung gebe es keine Mehrheit. „Wir dürfen aber trotzdem die Tür zu Innovationen, die weniger gefährlich und ohne Atommüll möglich sind, nicht verschließen“, so Linnemann. Die MIT hat daher auf dem vergangenen Bundesmittelstandstag in Kassel gefordert, an der wissenschaftlichen Weiterentwicklung der Kernenergie festzuhalten. Projekte „zur Kernfusion und zu kleinen, modularen Reaktoren sollen ergebnisoffen als mögliche Variante für eine CO2-freie Energieproduktion auch für Deutschland geprüft werden“, heißt es in dem Beschluss. Auf Initiative der MIT hat der Bundesfachausschuss Wirtschaft der CDU diese Formulierung übernommen. Die Suche nach einer wirtschaftlichen, sauberen und gesellschaftlich akzeptierten Energielösung in Deutschland geht damit weiter.

Dieser Artikel erschien im Mittelstandsmagazin (Ausgabe 2-2020)