Professor Raffelhüschen im Interview: „Der Lockdown hat uns Millionen Lebensjahre gekostet“

Datum des Artikels 19.08.2020
MittelstandsMagazin

Der Finanzprofessor Bernd Raffelhüschen rechnet nicht mit einer schnellen Erholung der Konjunktur. Eher dauere es mehrere Jahre, bis Deutschland wieder auf dem Wachstumspfad sei. Im Interview mit Mittelstandsmagazin-Chefredakteur Thorsten Alsleben verrät Raffelhüschen, warum er die Hilfspakete der Bundesregierung für Beruhigungsmittel hält, wieso auch der Lockdown Lebensjahre kostet und was das Rentensystem anstelle der Grundrente eigentlich braucht.

Herr Professor Raffelhüschen, Peter Altmaier sagt: Im Herbst wird die Rezession überwunden sein. Carsten Linnemann sagt: Im Herbst droht eine Pleitewelle. Was ist Ihre Prognose?

Raffelhüschen: Die Linnemann‘sche Version, mit hundertprozentiger Sicherheit. Wenn es gut läuft, werden wir ein konjunkturelles, U-förmiges Szenario bekommen. Die Wirtschaft würde allerdings drei, vier Jahre brauchen, um wirklich wieder Fuß zu fassen. Tatsächlich glaube ich aber eher, dass wir keinen konjunkturellen Einbruch, sondern einen Wachstumseinbruch erleben werden. Und ein solches Szenario wäre viel, viel schlimmer. Denn bei einem konjunkturellen Impuls, so wie im Lehman-Crash 2007, geht das Wachstum erst kurz runter, um dann allerdings über kurz oder lang wieder auf den normalen Pfad zu gelangen. Das ist die effektive Nachfrage, die die Bundesregierung mit dem Konjunkturprogramm adressiert. Was wir tatsächlich brauchen, ist aber etwas ganz anderes. Wir brauchen keine Konjunkturimpulse, sondern Wachstumsimpulse: also letztlich ein Wachstumsprogramm statt eines Konjunkturpakets.

Warum wird die Erholung so lange dauern?

Der Grund liegt darin, dass wir unsere filigran strukturierte Marktwirtschaft nicht einfach an- und ausschalten können wie eine Spielzeugeisenbahn. Zunächst kommt der Kaltstart – so wie bei der deutschen Wiedervereinigung. Bei dieser hat der Prozess einige Jahrzehnte gebraucht. Der jetzige Zusammenbruch aller globalisierten Wertschöpfungsketten führt dazu, dass wir optimistisch betrachtet erst in einigen Jahren, vielleicht sogar erst in zehn Jahren wieder den Wachstumspfad erreichen werden, auf dem wir zuvor waren.

Welche nachhaltigen Schäden hat die Corona-Krise gebracht?

Wir haben unsere Automobilwirtschaft deutlich heruntergefahren und die gesamten touristischen Wertschöpfungsketten unterbrochen. Wir haben Lieferketten im europäischen und transatlantischen Kontext unterbrochen. All dies wieder in Ordnung zu bringen, wird dauern.

Aber die ersten Hotels sind schon wieder ausgebucht, die ersten Lieferanten liefern wieder.

Ja, aber wenn wir uns überlegen, wie viele Lkw vorher auf der Straße waren und wie die Hotels jetzt besucht sind, dann sehen wir, dass da noch viel fehlt und häufig noch keine Gewinne gemacht werden. Daher ist meine Einschätzung, dass dieser Wachstumseinbruch eben doch längerfristiger ist, als wir es ursprünglich gedacht haben. Selbst wenn wir zu einem U-förmigen, konjunkturellen Impuls kommen, dann wäre es trotzdem nicht ausreichend, ein Konjunkturprogramm zu stricken. Statt einer befristeten Mehrwertsteuersenkung hätten wir eine Steuervereinfachung gebraucht, zum Beispiel mit einer Mehrwertsteuer von 16 oder 15 Prozent auf alles. Oder: Statt den Kommunen, die ja schon vor der Krise gezeigt haben, dass sie nicht haushalten können, jetzt noch mehr Geld zu geben, wäre eine Reform der Gewerbesteuer sinnvoller gewesen.

Der Lockdown war zwar zu Lasten der Wirtschaft, aber er hat doch gesundheitlich genutzt oder nicht?

Der Lockdown hat massive negative Folgen und insofern muss man die Verhältnismäßigkeit hinterfragen. Wir haben keine Möglichkeit, Leben zu retten. Wir haben nur die Möglichkeit, Leben zu verlängern oder zu verkürzen. Das kann Politik, mehr aber nicht. Das, was wir an Leben „gerettet“ haben, sind Lebensjahre, die als Lebenserwartung derer, die gestorben sind, nicht besonders lang waren. Die Lebenserwartung des Durchschnittstoten war im Maximum neun Jahre, wahrscheinlich durch Vorerkrankungen eher zwei bis vier. Hier haben wir Lebensjahre gewonnen. Aber wir haben viel mehr Lebensjahre verloren durch das Unterbrechen der Wertschöpfungsketten, die den technischen Fortschritt begründen. Denn ohne technischen Fortschritt gibt es auch keinen medizinisch-technischen Fortschritt.

Kann man das errechnen, was das ungefähr gebracht hat?

Wenn man annimmt, dass wir den Zuwachs an Lebenserwartung, der jedes Jahr im Minimum circa fünf Wochen beträgt, um zwei Wochen verkürzt hätten, dann hätten wir durch den Lockdown drei Millionen Lebensjahre verloren. Bei drei Monaten wären es 30 Millionen. Wir haben durch den Lockdown wahrscheinlich zwischen drei Millionen und 30 Millionen Lebensjahre für alle verloren. Und gewonnen haben wir zwischen 30.000 und 400.000 Lebensjahren.

Dann hätte man den Lockdown besser nicht gemacht?

Wenn alle Länder weltweit abgestimmt gehandelt hätten, wäre ein sehr moderater Lockdown möglicherweise ausreichend gewesen. Aber wenn Deutschland alleine agiert und der Lockdown anderer Länder auch bei uns einen Wirtschaftsstillstand erzwingt, dann habe ich gar nicht die Chance, den Lockdown zu vermeiden. Das ist aber keine Schuldzuweisung. Im Nachgang ist es leicht zu sagen, alle hätten besser miteinander kommunizieren müssen. Ein Virus ist etwas Internationales, und so kann die Lösung auch nur eine internationale sein. Ich hoffe, dass sich die Regierungen mindestens für die Zukunft vornehmen, ein abgestimmtes gemeinsames Verhalten aller Industrienationen hinzubekommen und nationale Alleingänge zu unterlassen.

 

Wie würden Sie die Hilfs- und Rettungspakete der Bundesregierung benoten?

Bei ganz wenigen Maßnahmen würde ich eine 1 bis 2 vergeben. Bei den meisten Maßnahmen würde ich eine 4 minus bis 6 vergeben. Im Konjunkturpaket wurde eine vernünftige Strategie gewählt, indem wir gesagt haben: Wir müssen Unternehmen vor Insolvenzen bewahren, die nur situativ zahlungsunfähig sind. Das heißt, der steuerliche Rücktrag von Verlusten aus der jetzigen Phase in die Phase der Vergangenheit ist das vernünftigste Mittel. Wir hätten das ein bisschen großzügiger regeln können. Aber immerhin ist das die richtige Maßnahme. Sie stützt Unternehmen, die Gewinne gemacht haben, und nicht die Unternehmen, die vorher schon quasi insolvent waren. Manche Maßnahmen wie die Investitionsförderung oder die verbesserten Abschreibungsmöglichkeiten sind ebenfalls zu begrüßen.

Und was ist nicht gut?

Es ergibt keinen Sinn, das Füllhorn über alles auszuschütten. Eine Mehrwertsteuersenkung um drei Prozentpunkte ist quasi nichts anderes als eine Unterstützung der effektiven Nachfrage. Aber sind die Leute wirklich im Kaufrausch, wenn Produkte des Alltags meist nur wenige Cent weniger kosten? Ich sehe nicht, dass wir den Konsum anheizen. Stattdessen haben wir einen administrativen Moloch geschaffen. Denn jeder, der mal mit der Mehrwertsteuer hantiert hat, weiß, wie komplex das Ganze ist. Die Umstellung ist für viele Unternehmen ein Problem. Die Politik wollte ein Signal setzen, aber die Kauflust verpufft, weil die Menschen mit Maulklappen durch die Geschäfte müssen.

Der Ökonom Hans-Werner Sinn hat die Gesamthöhe der Corona-Krisenmaßnahmen auf 1,3 Billionen Euro beziffert. Das muss doch spürbar sein?

Ich traue mir derzeit nicht zu, den wirtschaftlichen Impuls vollständig abzuschätzen. Das Problem ist die Verhaltensänderung der Bevölkerung. Wir haben keine konjunkturelle Delle wie 2008, als es einen kurzen Auftragseinbruch gab, es dann aber auch schnell wieder weiter ging. Ich beobachte derzeit, dass die Menschen anders miteinander umgehen, anders kaufen, anders ihren Urlaub planen. Das ist etwas sehr Strukturelles. Deshalb glaube ich, dass sich die Krise länger auswirkt.

Also sind die Rettungsmaßnahmen nicht wirklich eine Medizin?

Die Rettungsmaßnahmen sind ein teures Beruhigungsmittel mit extremen Nebenwirkungen für die nächsten Generationen.

Was müsste jetzt an strukturellen Änderungen jenseits der Hilfspakete kommen?

Die strukturellen Änderungen in der Wirtschaftspolitik sind relativ einfach. Wir brauchen eine Strukturreform in der Unternehmensbesteuerung, aber auch schon seit Jahren. Das hätten wir jetzt angehen müssen. Genauso müssen wir die Kommunalfinanzen auf eine andere Basis stellen. Derzeit können Kommunen gar nicht anders, als sich konjunkturzyklisch zu verhalten. Die Gewerbeertragssteuer und die Körperschaftsteuer brechen ein. Da ist nichts mehr. Auf der anderen Seite hätten wir etwas sparsamer in der Krise sein sollen. Die psychologische Komponente wirkt nicht wirklich und die Schulden wachsen uns über den Kopf. Bei den Ausgaben hätten wir vorsichtiger agieren müssen. Wir wissen seit Jahrzehnten, dass wir ein strukturelles Ausgabenproblem haben. Wir haben einen Sozialstaat, der so groß ist wie noch nie…

... der aber auch hilft, weil die Arbeitnehmer durch das Kurzarbeitergeld erst einmal nicht in die Arbeitslosigkeit entlassen werden.

Das ist richtig. Das Kurzarbeitergeld war immer ein Momentum, das uns hier abfedern ließ. Und das war eine solide Grundlage für kurzfristige konjunkturelle Impulse. Aber die Frage ist, ob wir diese Kurzarbeiter wieder zurückbekommen in Lohn und Brot oder ob sie in strukturelle Arbeitslosigkeit rutschen. Wahrscheinlich wird ein Teil der Kurzarbeit in eine strukturelle Arbeitslosigkeit münden. Dies wäre das Schlimmste, was uns passieren kann, denn die bekommen wir erst durch langfristige Strukturprogramme wieder weg.

Wie bewerten Sie die Grundrente? Die Befürworter sagen: Wir können doch nicht mit zehn Milliarden Euro die Lufthansa retten und dann 1,5 Milliarden Euro für arme Rentner verweigern.

Das ist kompletter Blödsinn, denn das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Die 1,5 Milliarden Euro für die Grundrente sind eine völlig irrationale, unsystematische, administrativ schon im Vorfeld verunglückte, quasi alle Grundprinzipien der Rente mit Füßen tretende und vernichtende Maßnahme, die wir unterlassen hätten sollen. Aber es ist klar: Wir machen seit Jahrzehnten nichts anderes, als Wahlgeschenke an die Alten zu verteilen. Armut zum Beispiel wird im Alter anders behandelt als in jungen Jahren. Wir haben keinen Gleichbehandlungsgrundsatz mehr bei Armut, was wichtig war für unseren Sozialstaat. Das Lebensleistungsprinzip der Rentenversicherung war seit Adenauer klar – jetzt ist es ausgehebelt. Und das Absurde ist jetzt noch, dass die Corona- Pandemie durch die entsprechende Kurzarbeit und durch die entsprechenden tariflichen Abschlüsse wahrscheinlich zu einem negativen Impuls auf die Löhne führen wird. Und dieser negative Impuls auf die Löhne müsste solidarisch mitgetragen werden durch die Rentner, die diese negativen Impulse dank Hubertus Heil aber nicht mitmachen müssen. Das Rentenniveau, und das ist das Absurde, wird durch die Corona-Pandemie steigen. Wir bekommen massive Einbußen von den Erwerbstätigen in ihren Löhnen und die, die sie dann mitfinanzieren, die Rentner, machen das nicht mit, sondern kriegen sogar noch obendrauf ein Rentenniveau, das um zwei oder drei Prozentpunkte steigen wird.

Das ist ja eigentlich unsozial gegenüber der Krankenschwester oder dem Feuerwehrmann, die in der Krise arbeiten mussten und das jetzt finanzieren müssen.

Wir haben mit der Grundrente gerade das unsozialste Rentenpaket unserer Geschichte verabschiedet, das unsolidarischer nicht sein kann.

Wie könnten die Rentenkassen wieder stabilisiert werden? Reichen die Vorschläge der Rentenkommission?

Die Rentenkommission hat einen Bericht geschrieben, der das Papier nicht wert war. Selbst die Reisekosten hätte ich mir eingespart bei dieser Rentenkommission. Das war ja absurd, was dabei herausgekommen ist. Das, was wir 2003 als Rürup-Kommission vorgeschlagen haben, nämlich eine beitragsstabilisierende Strategie, das war vernünftig – die Nachhaltigkeitsgesetzgebung wie auch die Rente mit 67. Lebenserwartungsanstieg heißt, dass wir natürlich die ansteigende Lebenserwartung auch so korrigieren müssen, dass wir für das, was wir länger an Rente beziehen, auch ein bisschen länger arbeiten müssen. Und der Nachhaltigkeitsfaktor war ja nichts anderes, als zu sagen: Ich mache für die junge Generation die Beiträge konstant. Aber der Nachhaltigkeitsfaktor ist jetzt leider abgeschafft, ausgerechnet in der Zeit, in der die Babyboomer in Rente gehen. Die Babyboomer sind der Verursacher und das Problem der jungen Generation zugleich. Sie sind die vielen, die von den wenigen immer länger ihre Bezüge haben wollen. Zukünftige Politiker werden diesen Sozialstaat wieder auf ein vernünftiges Maß zurückführen müssen.

Aber die Rentner werden eine immer größere Wählergruppe. Das wird ja kein Politiker machen.

Das ist genau der Punkt. Der Medianwähler ist bereits jetzt jenseits der 55. Die Mehrheit liegt ganz klar fest. Insofern können wir nur an die Alten der Zukunft appellieren, an die Kinder zu denken. Denn die Kinder werden überfordert.

 

Welche Maßnahmen sind notwendig?

Ganz klar eine längere Lebensarbeitszeit. Wir müssen das Rentenalter an die Lebenserwartung koppeln, so wie das in Skandinavien bereits seit Jahrzehnten gemacht wird. Wir müssen den Babyboomern sagen, dass sie nicht ihre Kinder mit einer Abgabenquote jenseits von 40 Prozent belasten dürfen. Denn jenseits von 40 Prozent Sozialabgaben plus der Steuerlast, die auf diesen Schultern noch ruht, das macht genau das Akzeptanzproblem aus, von dem ich gesprochen habe. Keiner von uns würde weit über 40 Prozent Sozialabgaben zahlen und dann nochmal 30 Prozent Steuerquote ertragen. Insofern werden wir diese Adjustierung unseres Sozialstaates in die Wege leiten müssen. Denn wir verteilen heute ja schon ein Drittel unseres Bruttoinlandsproduktes um in den sozialen Sicherungssystemen.

Das heißt, der Rentner der Zukunft wird ein geringeres Wohlstandsniveau haben müssen?

Das kommt darauf an, wie er agiert. Er wird im Regelfall aus der gesetzlichen Rente eine Basisversorgung beziehen. Er wird auch in der Gesundheitsversorgung in irgendeiner Form rationiert werden müssen. Er wird bei der Pflege, auch da können wir nicht für alle auf alle Zeit alles finanzieren, eine Selbstbeteiligung schlucken. Er wird mehr Selbstbehalte zugemutet bekommen. Wir werden vielleicht bei der Pflege zum Beispiel auf eine Karenzzeit hinauslaufen, bei der die Menschen das erste Jahr selber zahlen müssen. Dann werden natürlich die Alten sagen: Das ist unzumutbar. Dann werden wir denen sagen müssen, die Alten mussten früher alles selbst bezahlen, es sei denn, sie bekamen Sozialhilfe. Auch bei der Gesundheitsversorgung müssen wir uns klar machen: Wir haben ein sehr, sehr gutes Gesundheitsversorgungssystem. Die Leute schimpfen immer, aber so gut wie in Deutschland ist es kaum in einem anderen Land. Das hat auch die Corona-Pandemie gezeigt. Diese komfortable Situation haben wir natürlich mit einem sehr hohen Ausgaben- Niveau bekommen. Und daran müssen wir arbeiten.

Die Defizitquote ist durch die Neuverschuldung in diesem Jahr ungefähr auf dem Stand wie nach der letzten Wirtschaftskrise. Wie schnell kommen wir wieder auf Vor-Corona-Niveau?

Wir werden Ende des Jahres bei rund 80 Prozent expliziter Staatsschuldenquote liegen. Und die sollten wir dann relativ schnell zurückfahren.

Zehn Jahre hat es beim letzten Mal gedauert, um auf unter 60 Prozent Defizitquote zu kommen.

Die letzten zehn Jahre vor der Corona- Pandemie waren das deutsche Wirtschaftswunder Nummer zwei. Wir haben zwar zehn Jahre Finanzkrise gefeiert in den Medien. Aber tatsächlich haben wir über 40 Quartale ununterbrochenes Wachstum und einen Anstieg der Beschäftigtenzahlen gehabt. Wir haben drei, vier Millionen Menschen mehr in der Erwerbsfähigkeit gehabt. Das heißt, wir haben nichts anderes erlebt, als was wir Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre schon einmal erlebt haben: ein Wirtschaftswunder. Dieses Wirtschaftswunder dann als „10 Jahre Finanzkrise“ zu feiern, das ist eine deutsche Eigenart. Das schaffen nur wir. Aber dennoch: Diese zehn Jahre waren außergewöhnlich gut. Und diese außergewöhnliche Zeit hat uns eine Rückführung der Staatsschuldenquote gebracht von 80 auf 60 Prozent.

Und Sie glauben, das gelingt nicht noch mal?

Nur wenn wir das dritte Wirtschaftswunder bekommen. Aber normalerweise hat der Mensch in seinem Leben nicht die Wahrscheinlichkeit, drei Wirtschaftswunder zu erleben. Das ist sehr selten. Deshalb wird es länger dauern. Nur der Punkt ist: Das sind die expliziten Schulden. Die versteckten Staatsschulden sind viel, viel größer. Die Finanzkrise war im Grunde pillepalle im Verhältnis zu dem, was wir jetzt erleben. Wir haben eine Ausweitung der expliziten Staatsschulden von 60 auf 80 Prozent. Wir haben eine Ausweitung der versteckten Staatsschulden von 160 auf 280 Prozent des BIP. All das, was jetzt mit der Ausweitung der versteckten Staatsschuld passiert, umfasst mehr als ein BIP. Das heißt auf gut Deutsch, dass wir die expliziten Staatsschulden vielleicht um 700 Milliarden Euro erhöhen. Aber mit Verlaub: Die versteckten Staatsschulden wachsen mit weit über 3.000 Milliarden Euro.

Wie lösen wir das?

Das Problem ist, dass die impliziten Schulden irgendwann zu expliziten Schulen werden. Irgendwann fliegen uns diese Schulden um die Ohren. Und da liegt natürlich die Krux: Solange wir keine Zinsen zahlen auf unsere Staatsschulden, läuft die Sache wie geschmiert. Und dann kann ich auch mit 100 Prozent oder 120 oder 150 Prozent Schuldenquote agieren. Ich darf halt bloß keine Zinsen zahlen. Und diese Niedrigzinsphase sehe ich noch ziemlich lange, denn der Staat kann keine Zinsen zahlen. Wenn wir in Deutschland Zinsen auf unsere versteckten und offengelegten Schulden zahlen würden, da würden wir heute schon mehr Zinsen zahlen, als wir in Bildung investieren. Den Zinssatz von null, den brauchen nicht nur die Italiener oder Spanier, den brauchen wir Deutschen genauso.

Die letzten Fragen bitte nur mit Ja oder Nein beantworten. Sie haben einen Joker. Finden Sie, dass Politiker zu viel auf Virologen und zu wenig auf Ökonomen gehört haben?

Ja.

Wird Deutschland in drei Jahren strukturell besser dastehen als vor der Krise?

Nein.

Wird Deutschland die Krise besser überwinden als die meisten anderen Industriestaaten?

Joker.

Werden Sozialabgaben dauerhaft bei maximal 40 Prozent liegen?

Nein.

Sehen Sie in der Bundesregierung mindestens einen überzeugten und überzeugenden Marktwirtschaftler?

Nein.

Zum Schluss eine Satzvervollständigung: „Wenn mir ein CDU-Kanzler nach der Wahl das Arbeits- und Sozialministerium anbieten würde…“ 

… würde ich das annehmen.

 

Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen (62) ist Professor für Finanzwissenschaft und Direktor des Forschungszentrums Generationenverträge an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. An der Universität Bergen in Norwegen leitet er zudem das Institut für Volkswirtschaftslehre. Der Nordfriese war 2002 und 2003 Mitglied der Rürup-Kommission zur Stabilisierung der Sozialversicherung. Er engagiert sich zudem als Vorstand der Stiftung Marktwirtschaft und als Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Raffelhüschen ist verheiratet und Vater von drei Kindern.


Dieses Interview erschien im Mittelstandsmagazin (Ausgabe 4-2020). Fotos: Laurence Chaperon