Veronika Grimm im Interview

Datum des Artikels 03.02.2023
MittelstandsMagazin

"Der Tankrabatt hat auch viele begünstigt, die man gar nicht entlasten musste."

Die Wirtschaftsweise Prof. Veronika Grimm spricht im Interview mit Mittelstandsmagazin-Chefredakteur Thorsten Alsleben über die Gaspreisbremse, den Fachkräftemangel – und was sie als Wirtschaftsministerin anders machen würde.

Alsleben: Frau Professorin Grimm, Sie hatten mit Ihrem Sachverständigengutachten eine etwas ungewöhnliche Reaktion. Rot-Grün hat sich gefreut über Ihre Steuererhöhungs-Vorschläge. Schwarz-Gelb hat das abgelehnt. Ist jetzt der Sachverständigenrat nach links gerutscht?

Grimm: Nein, der Sachverständigenrat leitet seine Einschätzungen aus wissenschaftsbasierter Analyse ab. Wir haben unsere Vorschläge in den Kontext gesetzt: Im aktuellen Inflationsumfeld wäre es auch ein Anliegen von Ordoliberalen, zielgerichtet zu entlasten, um die Staatsfinanzen zu schonen und die Inflation nicht unnötig durch fiskalische Maßnahmen anzuheizen. Das gelingt, indem man nur denjenigen Entlastung zukommen lässt, die stark von der Inflation betroffen sind und gleichzeitig die Belastungen nicht selbst tragen können, etwa aufgrund von niedrigen oder mittleren Einkommen. Dem würden, glaube ich, viele Ökonomen zusstimmen. Nun wurden aber viele Maßnahmen gerade nicht zielgerichtet, sondern mit der Gießkanne gestaltet. Die Gelder sind einfach vielen zugutegekommen, die der Staat gar nicht entlasten muss, weil sie die Verluste selbst tragen können. Und dann haben wir eben gesagt, im Gegenzug könnte man überlegen, sich durch zeitlich befristete Maßnahmen einen Teil wieder zurückzuholen.

Alsleben: Aber das trifft ja genau 80 Prozent des Mittelstandes! Die ganzen Personengesellschaften zahlen die Einkommensteuer, die ganzen Freiberufler, Selbstständigen. Die werden in so einer Situation noch mal belastet.

Grimm: Zum Beispiel hat der Tankrabatt auch viele begünstigt, die man gar nicht entlasten musste. Gerade bei den Unternehmen wird der Staat viele Unternehmen entlasten, die entweder gar nicht so stark durch Energiekosten belastet sind, weil der Energiekosten-Anteil gar nicht so groß ist, oder auch solche, die ihre Kostensteigerungen an die Verbraucher weitergeben können. Unser Vorschlag ist schon auch der Wink mit dem Zaunpfahl an die Politik, zu sagen: Kümmert euch mal darum, dass ihr besser, zielgerichteter entlasten könnt, wenn solche Krisensituationen eintreten. Da sind wir aktuell nicht gut aufgestellt.

Alsleben: Wir haben in diesem Jahr über 50 Milliarden Euro Mehreinnahmen gegenüber 2021. Im nächsten Jahr werden es über 100 Milliarden Euro sein. Braucht man da überhaupt Steuererhöhungen?

Grimm: Wir nehmen auch in großem Umfang Kredite auf. Man muss schon sehen, dass wir die Finanzierung der Entlastungen über eine Erhöhung der Staatsverschuldung realisiert haben. Nun stehen wir in Deutschland einerseits gut da, weil aufgrund der Schuldenbremse der Staatsschuldenstand niedrig war. Wir dürften auch relativ schnell wieder von den Schulden runterkommen, wenn uns jetzt nicht noch viele weitere Krisen treffen. Aber die Tilgungspläne belasten künftige Generationen und reduzieren deren Spielräume. Und das in einer Zeit, in der geopolitische Veränderungen die Rahmenbedingungen für Europa schwieriger machen. Unser Appell ist es, die Programme auszubalancieren, also nicht leichtfertig die zukünftigen Generationen zu belasten, sondern zu überlegen, wer auch heute etwas stemmen kann. Was wir in unserem Gutachten besonders fokussieren, sind die Herausforderungen der Zukunft: Wettbewerbsfähigkeit, Energie, Fachkräfte, Herausforderungen aufgrund geopolitischer Veränderungen. Wenn wir mehr Resilienz wollen, müssen wir Abhängigkeiten – insbesondere von China – reduzieren. Das wird das Wachstumspotential kurzfristig weiter reduzieren – in einer Zeit, in der wir schon einen Wohlstandsverlust hinnehmen müssen. Und vor diesem Hintergrund finde ich es nicht ganz unwichtig, darauf zu achten, die Verschuldung im Rahmen zu halten.

Alsleben: Kommen wir zur Gaspreisbremse, an der Sie maßgeblich mitgearbeitet haben. Da gab es mehrere Kritikpunkte. Zum einen, im Dezember gibt es jetzt eine kleine Hilfe mit diesem Abschlag und dann ab März die Entlastung rückwirkend. Wie sollen Unternehmen in der Winterlücke im Januar und Februar ihre Liquidität sichern?

Grimm: Wichtig bei der Gaspreisbremse ist es, dass die Verbraucher entlastet werden, aber gleichzeitig der Gas-Sparanreiz erhalten bleibt. Es wird nun entsprechend unserer Empfehlung so umgesetzt, dass man mit jeder Kilowattstunde, die man einspart, seine Rechnung um den hohen aktuellen Marktpreis verringert. Sparanreize bleiben also voll erhalten. Die Entlastung kommt bei den Kunden als Einmalzahlung an, die proportional zu ihrem historischen Verbrauch ist und die Kostenbelastung auf ein Niveau senkt, das ungefähr in Zukunft zu erwarten ist, das nennen wir „New Normal“. Dieses Kostenniveau ist höher als die historische Kostenbelastung, da die Gaspreise in Zukunft nicht auf das historische Niveau zurückgehen werden – LNG wird teurer sein als das russische Gas. 

Alsleben: Sie beziehen sich da nur auf Gas. Was ist mit Pellets und Öl? Da sind ja auch viele betroffen von den Preissteigerungen.

Grimm: Von Preissteigerungen, ja. Die Preissteigerungen bei Pellets und Öl sind ungefähr eine Verdopplung der Kosten, teilweise eine 2,5-Fachung. Wir haben aber bei Gas eine Verzehnfachung der Preise im Großhandel erlebt. Sie sind weiterhin auf historisch hohem Niveau und werden nicht vor 2024 wieder deutlich sinken. Und diese Kosten kommen jetzt langsam bei den Gaskunden an. Das bedeutet, dass die Gasrechnung sich verfünffacht bis verachtfacht. Dieser Kosten-Tsunami, den können die meisten Haushalte und auch viele Unternehmen nicht stemmen. Den will man abfangen. Und zwar etwa so weit, dass sich die Gaspreise nur verdoppeln, statt sich zu verachtfachen. Die Gaspreisbremse sollte so ausgestaltet sein, dass die Gaskunden in etwa so stark belastet sind wie die Pellet- und Öl-Kunden. Und wenn jemand – etwa aufgrund eines niedrigen Einkommens – nicht in der Lage ist, die Verdopplung seiner Gaskosten zu tragen, dann muss über eine Härtefallregelung diesen Leuten noch weitergehend geholfen werden. Aber das sollte man dann wirklich einkommensabhängig machen.

Alsleben: Sie haben im Frühjahr gesagt, man solle Energiekosten auch nicht für die Unternehmen zu sehr dämpfen, weil es eigentlich gut ist, dass wir hohe Preise haben, damit Energie gespart wird. Das führt natürlich in vielen Fällen dazu, dass sich Produktion in Deutschland nicht mehr lohnt, weil woanders die Energiepreise geringer sind.

Grimm: Ja, genau. Man muss bei den Kosten entlasten, aber gleichzeitig die hohen Preise wirken lassen. Wir sehen ja jetzt aktuell die Verzehnfachung der Energiepreise und es geht wieder runter. Aber das alte Niveau werden wir nicht mehr erreichen, sondern es wird voraussichtlich eine Lücke zu den historischen Gaspreisen bleiben. In Deutschland hatten wir historisch Gaspreise zwischen 15 und 20 Euro pro MWh am Großhandel und jetzt legen die Terminmärkte und energiewirtschaftliche Berechnungen eher einen mittelfristigen Preis zwischen 40 und 60 Euro nahe. Also haben wir vorgeschlagen, die Entlastung so zu gestalten, dass Haushalte und Unternehmen ab sofort auf dem Niveau dieser „neuen Normalität“ sind. Schon das wird bei den Unternehmen zu einer Selektion führen. Wer unter den Rahmenbedingungen kein tragfähiges Geschäftsmodell hat oder Schwierigkeiten hat, seine Transformation hin zu erneuerbaren Energien schnell genug umzusetzen, der wird unter Druck geraten. Daher wird es teilweise zu Standortverlagerungen kommen und es muss schneller als erwartet eine Diskussion stattfinden, ob man bestimmte Sektoren aus strategischen Gründen halten soll. Man kann natürlich nicht für die gesamte Wirtschaft dauerhaft den Energiepreis unter dem Niveau der Marktpreise fördern. Aber man muss schon schauen, wo es zu Abwanderung kommt, die uns zum Beispiel in neue Abhängigkeiten bringt. 

Alsleben: Betrachten wir die Angebotsseite. Sie fordern die Verlängerung der Laufzeiten für Kernkraftwerke. Aber man hätte ja auch die drei, die noch lauffähig wären, reaktivieren können. Dann hätten wir mehr CO2-armen Strom. Warum haben Sie das nicht vehement gefordert?

Grimm: Es ist unklar, ob es sich lohnen würde, für alle Brennstäbe zu beschaffen. Der Preiseffekt ist schon signifikant. Wir haben das für die drei noch laufenden Kernkraftwerke gerechnet. Eine Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke würde im Jahr 2024 eine Strompreisreduktion zwischen acht und zwölf Prozent bringen. Ob man jetzt die weiteren Kernkraftwerke auch noch hinzuholen sollte? Es gäbe einen weiteren preissenkenden Effekt. Aber mit zunehmendem Ausbau von Erneuerbaren würden sie diese immer mehr aus dem Markt drängen. Da man sie nicht mehr lange bräuchte, rechnen sich die Brennstäbe vermutlich nicht für alle sechs. Müsste man sich genau anschauen und abwägen.

Alsleben: Sie sind ja wie die MIT für eine Stärkung des Emissionshandels als Klimaschutz-Instrument. Müsste man nicht so konsequent sein und nur noch auf Emissionshandel setzen und die ganzen anderen Instrumente, Verbrenner-Verbot, gesetzliche Abschaltdaten für Kohlekraftwerke usw., abschaffen, weil wir dann ja über den Preis die CO2-Mengen steuern?

Grimm: Wir sollten in der Tat deutlich mehr auf den Emissionshandel setzen. In dem Bereich, wo wir den Emissionshandel haben, da wurden die Emissionsreduktionsziele erreicht. In den anderen Bereichen setzen wir immer wieder Sofortprogramme auf, von denen man eigentlich schon weiß, dass sie viel zu teuer sind und am Ende ihren Zweck auch nicht erfüllen. Es sollte höchste Priorität haben, in der Europäischen Union auch für die Bereiche Mobilität und Wärme einen Emissionshandel einzuführen. Aber auch dann bleibt die Herausforderung, dass Klimaschutz nur global gelingen kann und wir daher dringend mit anderen Staaten weltweit kooperieren müssen. Und gerade mit den USA, die sonst ein wichtiger Kooperationspartner sind, wird das nicht einfach sein. Der Inflation Reduction Act ist nicht gut kompatibel mit einem gemeinsamen Vorgehen beim Klimaschutz. Da muss man hoffen, dass die aktuellen politischen Gespräche etwas bewegen.

Alsleben: Kommen wir zu den Sozialversicherungen: Gesundheit, Pflege, Rente, alles ist ja unter dem demografischen Damoklesschwert, wenn man es durchrechnet, so nicht mehr finanzierbar. Was ist die Lösung?

Grimm: Der Sachverständigenrat hat die Rentenversicherung im Jahr 2020 in den Blick genommen. Es liegen vom Beirat des Wirtschaftsministeriums, des Finanzministeriums, von verschiedensten Kommissionen, vom Sachverständigenrat, Empfehlungen vor, die alle in die gleiche Richtung gehen: Man muss das Verhältnis von Arbeitszeit zu Ruhestand über das Erwerbsleben hinweg konstant halten und damit das Renteneintrittsalter anheben, wenn auch die Lebenserwartung steigt. Dies ist unerlässlich, um die Tragfähigkeit der Rentenversicherung wieder herzustellen. Wir müssen also das Renteneintrittsalter erhöhen. Man muss natürlich dann auch die Voraussetzungen schaffen, dass die Leute tatsächlich länger arbeiten können – etwa durch Weiterbildungen und eine Anpassung der Tätigkeiten entlang des Erwerbslebens. Denn das tatsächliche Renteneintrittsalter liegt ja deutlich unter dem gesetzlichen Rentenalter. Häufig wird auch behauptet, eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen oder mehr Zuwanderung würde das Problem lösen. Das ist ein Irrtum, denn die Menschen erwerben ja auch Ansprüche gegen die Rentenversicherung, wenn sie mehr arbeiten.

Alsleben: Das größte Thema für die Betriebe neben den Energiepreisen ist der Fachkräftemangel, der ja inzwischen ein Arbeitskräftemangel ist. Was würden Sie sich da wünschen in Sachen Zuwanderung?

Grimm: Zum einen haben wir die Gleichwertigkeitsprüfungen für die Qualifikationen, die eigentlich in vielen Bereichen unnötig scharf sind und wirklich ein Hemmnis für die Zuwanderung.

Alsleben: Weil der Arbeitgeber auch selbst entscheiden kann, ob derjenige geeignet ist?

Grimm: Ja, man könnte auch den Arbeitsplatz zur wesentlichen Zugangsvoraussetzung machen. Das wäre eine Richtung, in die man gehen kann und die wir auch im Gutachten vorschlagen. Man könnte die Westbalkan-Regelung auf andere Länder ausweiten. Dann muss man natürlich sehr eng auch mit den Ländern kooperieren, um eben auch tatsächlich die Zuwanderungsströme in die Wege zu leiten, die Hemmnisse abzubauen.

Alsleben: Wie viele brauchen wir da eigentlich?

Grimm: Wenn man das aktuelle Erwerbspersonenpotenzial aufrechterhalten will, dann braucht man unter der Annahme, dass sogar die Erwerbsbeteiligung leicht steigt, eine Netto-Zuwanderung von 400.000 Personen pro Jahr. Das bedeutet brutto eine Zuwanderung von 1,5 Millionen Personen jährlich, da ja nicht alle bleiben.

Alsleben: Das wird für eine Gesellschaft nicht leicht.

Grimm: Es wird vor allem nicht leicht, die Menschen und ihre Familien herzulocken. Uns fehlen dafür die Strukturen und das Mindset. Wir brauchen zum Beispiel eine serviceorientierte Agentur für Zuwanderung. Die kommunalen Ausländerbehörden haben den völlig falschen Fokus. Und dann müssen wir unsere Attraktivität für die Zuwanderer erhöhen: Wir brauchen etwa mehr Chancengerechtigkeit an den Schulen, damit die Kinder der Zuwanderer nicht von vorneherein benachteiligt sind. Wer seine Kinder nicht gut betreut weiß, der kommt nicht mit seiner Familie oder geht wieder.

Alsleben: Jetzt komme ich zu etwas, was allenfalls den Mathematikern unter den Wissenschaftlern leichtfällt, nämlich Ja-Nein-Fragen. Sie können nur mit Ja oder Nein antworten. Wird Deutschland aus dieser Krise gestärkt hervorgehen?

Grimm: Ja.

Alsleben: Werden wir in den nächsten Jahren Wohlstandsverluste erleben?

Grimm: Ja.

Alsleben: Wird sich Soziale Marktwirtschaft international als Wirtschaftsordnung durchsetzen?

Grimm: Joker.

Alsleben: Wird Deutschland ohne Kernenergie ein klimaneutrales Industrieland werden können?

Grimm: Ja.

Alsleben: Wird die Infl ation in den nächsten Jahren wieder in die Nähe von 2 Prozent sinken?

Grimm: Ja. Ich glaube an die EZB.

Alsleben: Am Schluss eine Satzvervollständigung: Wenn mir nach der nächsten Bundestagswahl das Wirtschaftsministerium angeboten würde…

Grimm: … dann würde ich versuchen,
die Wirtschaftspolitik auf den Klimaschutz auszurichten, aber marktwirtschaftlich.