„Wir müssen für eine bürgerliche Mehrheit arbeiten“

Datum des Artikels 16.06.2021
MittelstandsMagazin

Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer spricht im Interview mit Mittelstandsmagazin-Chefredakteur Thorsten Alsleben über seine Erfahrungen aus der Corona-Krise, den Umgang mit der Staatsverschuldung und die Abgrenzung zu anderen Parteien.

Herr Ministerpräsident, ist die Corona-Krise jetzt weitgehend überstanden?

Michael Kretschmer: In einer Pandemie gibt es wenige Gewissheiten und es gibt immer Grund zur Vorsicht. Am 3. März saßen die Ministerpräsidenten zusammen und haben mit großer Verve die Corona-Krise für politisch erledigt erklärt und alles geöffnet. Ich habe damals davor gewarnt. Ich weiß noch, wie ich ganz alleine dastand. Das hat uns in diese dritte Welle hineingeführt, mit diesem unglaublichen Notstandsgesetz und dem Lockdown. Von daher würde ich sagen: Ja, wir sehen überall sinkende Zahlen und der Sommer tut sein Übriges. Wir haben große Fortschritte beim Impfen. Wir haben mit dem Testen neue Möglichkeiten, um sichere Kontakte zu organisieren. Aber wir sollten nicht übermütig werden und müssen die nächsten Monate sehr diszipliniert sein. Wir können einen tollen Sommer haben, viel Freiheit, große wirtschaftliche Dynamik. Aber wir müssen das mit Vernunft tun.

Was war denn für Sie persönlich das einschneidendste Erlebnis in dieser Corona-Krise?

Die Besuche in den Krankenhäusern – und die Erfahrung, dass diese Realität zwei Straßen weiter nicht bekannt war und man sie auch nicht sehen wollte. Wir hatten die Erschöpfung der Frauen und Männer in den Krankenhäusern. Wir hatten sie in den Gesundheitsämtern, die dort die Kontaktnachverfolgung organisiert haben. Die Bundeswehr war notwendig, um die medizinische Versorgung aufrechtzuerhalten. Aber ein Teil der Menschen hat das gar nicht mitbekommen und hatte deswegen auch nicht das Bewusstsein. Insgesamt hat der Staat – von der Maskenbestellung, über den Impfstart bis zur Auszahlung der Wirtschaftshilfen – in dieser Krise nicht die allerbeste Figur gemacht.

Was müssen wir beim Staat ändern, um beim nächsten Mal besser zu sein?

Diese Krise hat uns vieles vor Augen geführt, was wir nicht so schnell wieder vergessen sollten. Wir müssen zumindest daraus lernen, dass man eine gewisse Souveränität behält, indem man Lager vorhält für Güter, die man eben in kritischen Lagen braucht. Ich merke ein Umdenken auch gerade im Bereich der Digitalisierung oder der Mikroelektronik. Und es gab in vielen Ministerien die Vorstellung: Ach, das brauchen wir nicht. Das holen wir aus Asien, das hat hier keine Zukunft. Jetzt gibt es Gott sei Dank ein Umdenken. Es ist noch nicht zu spät.

Und beim Staat selber? Was könnte sich da ändern?

Als Thomas de Maizière damals als Innenminister versucht hat, den Zivil- und Katastrophenschutz stärker ins Bewusstsein zu bringen, hat man ihn belächelt. Wir wissen heute, dass er absolut recht hatte. Wir brauchen den Katastrophenschutz und sollten ihn weiter stärken. Der Staat muss viel stärker in die Digitalisierung hineingehen, von der Bildung bis zur Administration. Es wird vieles schlechtgeredet. Bei der Corona-Warn-App sehen wir beispielsweise, wie schnell vieles doch möglich ist. Über 27 Millionen Menschen haben die App mittlerweile. Also, es geht, wenn man will. Aber wir haben uns an vielen Punkten Beschränkungen auferlegt aus kleineren ideologischen Gründen. Oft wird der Datenschutz vorgeschoben. Der Ansatz ist falsch. Das muss man aufklären und dem entgegentreten. Wir brauchen eine Neubewertung von Datenschutz und wie Daten genutzt werden können.

Es gibt insgesamt in Deutschland immer mehr die Tendenz, Verantwortung dem Staat zu übertragen. Ist das der richtige Weg?

Ich teile diese Fundamentalkritik nicht. In welcher Region der Welt ist es besser gelaufen? Welche Region der Welt hat einen besseren medizinischen Schutz organisiert? Wo wurden Unternehmer, Selbstständige, Kulturschaffende besser unterstützt als in Deutschland? Ja, es sind Fehler gemacht worden und es hat manches zu lange gedauert. Aber ich sehe, dass viele Menschen über sich hinausgewachsen sind. Das ist etwas, was bleibt und was mir auch den Mut und die Kraft für andere Herausforderungen gibt. Es ist eine gefährliche Zeit, in der wir jetzt gerade sind. Der Bundeshaushalt ist extrem überdehnt. Wir haben ein strukturelles Defizit von rund 50 Milliarden Euro. Dies ist nicht nur durch die Corona-Krise, sondern auch durch die vielen Leistungsgesetze in der Zeit davor entstanden. Jetzt ist die Frage: Wie klärt man die Schulden? Wie klärt man das strukturelle Defizit?

Und was ist die Antwort?

Aus meiner Sicht geht das nur mit wirtschaftlicher Dynamik, mit mehr Freiheit, höherer Wirtschaftsleistung, höheren Exporten, mehr Arbeitsplätzen – und nicht, wie es die linken Parteien machen, durch höhere Verschuldung
oder durch höhere Steuern. Hier müssen wir die Grünen stellen: Wir haben das nach 1998 unter anderem mit der Ökosteuer erlebt, wie unter dem Deckmantel des Klima- und Umweltschutzes in die Portmonees der Bürger gegriffen worden ist. Diese zentrale Frage stellt sich bei der Bundestagswahl: Wie werden die Kosten geschultert? Ich bin eindeutig für einen marktwirtschaftlichen, freiheitlichen Ansatz.

Aber das Klimaschutzgesetz, das die Union mit beschließen will, bürdet den Bürgern deutliche Belastungen auf. Vermieter müssen teilweise die Heizkosten ihrer Mieter mitbezahlen. Das ist doch das Gegenteil von dem, was Sie gerade gesagt haben.

Die Aufteilung der CO2-Umlage wäre ein kompletter Systembruch. Das geht nicht. Da stehe ich an der Seite von Ralph Brinkhaus, der das mit der Unionsfraktion verändern will. So entsteht kein Vertrauen. Wir brauchen einen marktwirtschaftlichen Ansatz. Die Bepreisung von CO2 ist richtig, weil es damit die Chance gibt, dass ein Wettbewerb um die preiswerteste Lösung zur Bekämpfung von CO2-Ausstoß stattfindet. Klimaschutz gelingt nicht mit neuen Verboten, sondern durch Technologie und durch Wettbewerb um die besten Ideen.

Aber wenn der Staat die Preise festsetzt, ist es doch kein Markt. Dann müsste man es doch dem Emissionshandel ganz überlassen.

Entscheidend ist der Wettbewerb. So erzielen wir Einsparungen und kommen zu Lösungen, die möglichst wenig kosten und wenig CO2 ausstoßen.

Kommen wir zur Union. Die Umfragen sehen nach Sachsen-Anhalt besser aus, lassen jedoch noch Luft nach oben. Was sollte Armin Laschet tun, um stärker in die Offensive zu kommen?

Der entscheidende Punkt ist das Regierungsprogramm. Welche Akzente setzen wir dort? Es geht auch um die Frage: mehr Freiheit oder mehr Staat? Ich bin eindeutig für mehr Freiheit, mehr wirtschaftliche Dynamik. Welche Zukunftsprojekte haben wir? Armin Laschet ist ein Ministerpräsident, der eine bürgerliche Koalition führt. Ich traue ihm sehr viel zu.

Was sollten die drei Hauptthemen der Union im Wahlkampf sein?

Wie gehen wir mit den großen Belastungen um, die wir gebraucht haben, um dieses Land und die Menschen vor Corona zu schützen? Wie organisieren wir den gesellschaftlichen Generationenzusammenhalt, gerade im Bereich der Pflege? Und wie schaffen wir es, dieses Land wettbewerbsfähig zu halten in Richtung Energiepreise, in Richtung Bildung, Bürokratieabbau?

Das sagt jeder Politiker. Aber aktuell wird Bürokratie aufgebaut, auch von der CDU, durch Lieferkettengesetz, Frauenquote, Betriebsrenten-Modernisierungsgesetz. Die Mittelständler sind stinksauer darüber.

Das ist das Ergebnis einer Koalition von CDU/CSU und SPD. Daran sieht man einmal mehr: Vorsicht in der Wahlkabine. Manchmal kommt durch eine Abstimmung etwas heraus, was man sich überhaupt nicht wünscht. Wir haben aber in wenigen Monaten die Gelegenheit, die Dinge wieder zu verändern und sollten als Bürger von dieser Möglichkeit beherzt Gebrauch machen.

Gibt es denn die Möglichkeit, so etwas wie eine Frauenquote oder Lieferkettengesetz abzumildern, wenn die Grünen mit in der Regierung sind?

Ich werbe nicht für eine Koalition mit den Grünen, sondern für eine bürgerliche Regierung, die tatsächlich die Chance hat, diesen Aufbruch dann auch zu organisieren.

Sie halten eine schwarz-gelbe Mehrheit für realistisch?

Wir müssen für eine bürgerliche Mehrheit arbeiten aus Union und FDP und dafür werben. Und zwar nicht, um alles zu korrigieren, was die letzten Jahre auch mit der SPD Gutes gemacht wurde. Wir können nicht einfach so weiter machen wie bisher, sondern brauchen einen kritischen Blick und neue Akzente. Es geht darum, dass der Staat die finanzielle Ausstattung braucht für die Aufgaben, die wir übertragen haben. Also muss man auch über die Aufgaben, die wir vom Staat erwarten, sprechen. Da ist schon entscheidend: Wer ist der Koalitionspartner?

Viele, auch im bürgerlichen Lager, stellen sich eine Koalition mit den Grünen so vor, dass die Grünen ein bisschen Umweltschutz machen und die Union aufpasst, dass es der Wirtschaft weiter gut geht. Klingt das nicht verlockend?

Die Grünen sind eine Partei, die sehr stark auf ihre einzelnen Themen fokussiert ist, die wenig Kompromiss zulässt und die aus meiner Sicht den Blick auf das Ganze nicht hat. Wir als CDU haben uns beispielsweise unglaublich engagiert beim Kohleausstieg. Es ist ernüchternd zu sehen, wie unser Versuch, diesen Konflikt zu klären – zwischen Ökonomie und Ökologie mit einem weiten Entgegenkommen der Arbeitnehmer, der Wirtschaft, der betroffenen Bundesländer – ständig von den Grünen zerredet wird. Das sind alles Dinge, die zeigen, dass die Bereitschaft, staatsbürgerliche Verantwortung zu übernehmen und unterschiedliche Interessen gelten zu lassen, bei den Grünen nicht ausgeprägt ist.

Wer ist eigentlich unser Hauptgegner? Sind es die Grünen oder ist es doch die AfD?

Zunächst einmal geht es darum, für die eigene Position zu werben. Wir können nicht antreten und sagen: Das sind jetzt die Gegner. Wir müssen doch so überzeugend sein und so eine Kraft entwickeln mit unserem Personal und unserem Programm, dass wir uns nicht in Abgrenzung zu anderen empfehlen, sondern durch unsere eigene Stärke.

Wer sind für Sie die gefährlicheren Wettbewerber, gerade im Osten?

Das sehen wir an den Umfragewerten: die AfD. Zu viele haben das Gefühl, dass sie nicht im Fokus der öffentlichen Debatte stehen. Es werden oft Randthemen diskutiert, die mit ihrer Lebenswirklichkeit nichts zu tun haben. Es ist unsere Aufgabe, diesen Menschen, diesen Regionen eine Stimme, eine Perspektive zu geben und überzeugend zu sein. Umgekehrt ist es in anderen Regionen, in denen die Grünen sehr stark sind, das Gleiche. Auch da gibt es den Wunsch, stärker über die Themen Nachhaltigkeit und Klimaschutz zu reden. Da braucht die CDU Antworten und die hat sie bisher immer geliefert. Mit marktwirtschaftlichen Instrumenten kommen wir sehr weit.

Gerade im Osten gibt es viele Kritiker des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ÖRR). Sehen Sie auch die Akzeptanz des ÖRR durch eine einseitige Berichterstattung gefährdet? Beispielsweise beim Israelkonflikt, bei importiertem Antisemitismus oder in der Corona-Politik?

Auch in den privaten Medien wird das öffentliche Meinungsspektrum nicht immer breit abgebildet. Es wird heftig diskutiert und das zeigt, wie plural unsere Gesellschaft ist. Ich habe auch meine Kritik anzubringen: Ich finde beispielsweise das Reden mit Gendersternchen extrem gewöhnungsbedürftig und verstehe alle, die sich unangenehm berührt fühlen. Das ist eine Form der Sprache, die nicht unserer Tradition entspricht und nicht von der Mehrheit der Bevölkerung gesprochen oder akzeptiert wird. Wenn eine so klare Mehrheit ein anderes Sprachgefühl hat, ist es sehr erklärungsbedürftig, wenn öffentlich-rechtliche Medien so sprechen. Ich kann damit wenig anfangen. Wir sollten die weibliche und männliche Form verwenden, aber von einem Sternchen oder Unterstrich halte ich nichts.

Was halten Sie von dem Vorschlag von Carsten Linnemann, die Amtszeit für Regierungschefs in Bund und Ländern wie in den USA oder Frankreich zu begrenzen?

Ein interessanter Vorschlag, über den man diskutieren soll und muss.

Sie haben zwei kleine Kinder. Wir verträgt sich das mit einem politischen Spitzenamt? Welche Freiräume können Sie sich für die Familien nehmen?

Wie bei anderen Berufen, die sehr zeitintensiv sind, ist es schwer für die Familie. Und es ist immer ein Spagat. Ich bin gerne zu Hause und bei meiner Familie. Wir gehen viel wandern und verbringen dabei viel Zeit miteinander.

Beantworten Sie die folgenden Fragen bitte nur mit Ja oder Nein: Brauchen wir mehr Unternehmer in der Politik?

Ja.

Ich habe im Leben schon eine andere Partei als die CDU gewählt:

Nein.

Hat ein Ministerpräsident mehr Einfluss auf die Bundespolitik als ein Bundesminister?

Nein.

Kann sich die CDU in der Regierung erneuern?

Ja.

Und zum Schluss vervollständigen Sie bitte folgenden Satz: Im Bund wieder Politik zu machen, …

Ich fand die Erfahrung von 15 Jahren Bundespolitik spannend und sie hilft mir sehr viel, aber ich finde es toll und bereichernd, Ministerpräsident zu sein, und ich finde es noch schöner, jeden Abend bei meiner Frau und meinen Kindern zu sein.

Michael Kretschmer (46) ist seit Dezember 2017 Ministerpräsident sowie Landesvorsitzender der CDU in Sachsen. Er gehört zudem dem Präsidium der CDU Deutschlands an. Kretschmer wuchs in Görlitz an der Grenze zu Polen auf. Nach der Wende macht er zunächst eine Ausbildung zum Büroinformationselektroniker und studierte dann Wirtschaftsingenieurwesen. Bei der Bundestagswahl 2002 wurde er mit 27 Jahren direkt in den Deutschen Bundestag gewählt. Dort war er von 2009 bis 2017 stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion für die Themen Bildung und Forschung sowie Kunst, Kultur und Medien. 2017 verlor er sein Mandat an einen AfD-Kandidaten. Kurz darauf wurde er vom sächsischen Landtag als Nachfolger des zurückgetretenen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich gewählt. Kretschmer ist evangelisch, verheiratet und Vater von zwei Söhnen.

 


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